Sie kommen nicht aus der Mode.

Delta Machine. Das neue Album von Depeche Mode ist sehr gut, vielleicht sogar brilliant.

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Im Jahr 1993 bewertete der Rolling Stone das Album "Songs Of Faith And Devotion" von Depeche Mode mit 2 Sternen um auf der nächsten Seite David Bowies "Black Tie White Noise" mit 4 Sternen zu belohnen. 20 Jahre später wäre die Bewertung vermutlich mindestens umgekehrt. Insofern sind Musikrezensionen eigentlich heiße Luft. Reine Äußerungen einer persönlichen Reflexreaktion auf etwas neues. Aber ist ja auch egal.

Das letzte Album hat mich nachhaltig gelangweilt. Die Single "Wrong" war ein großartiger kleiner Schock und der Rest des Albums verblubberte belanglos in den Permafrost der Musikgeschichte. Meiner zumindest. Aber - so wenig wie das auch zur Sache tut - die Überzahl sah das genauso. Die wilden Analog-Synthie-Eskapaden sind nun auch auf diesem Album vorherrschend. Und die "Drums" haben ebensowenig Punch wie auf "Sounds Of The Universe". Das finde ich auch immernoch schade. Und so kommt mir die erste Hälfte des Albums lang immer wieder das Gefühl hoch, dass ich die Songs gern anschubsen möchte. Sie schaukeln sich hoch bis zu dem Punkt an dem man die Explosion erwartet, ja bisweilen herbeisehnt. Aber dann passiert nichts. Sie fallen wieder in sich zusammen. Tantra. Aber irgendwie ist das auch faszinierend. Und es klingt auch so richtig gut. Und man bleibt am Ball, weil man auf etwas wartet/gespannt ist, das noch passieren soll. Und es passiert noch jede Menge.

Bei früheren Alben der drei bis vier englischen Herrschaften war es eine unausgesprochene, goldene Regel, dass man sich die zweite Hälfte des Albums meist sparen konnte. die großen ikonischen Hits waren stets auf Seite A. Gefühlt zum ersten Mal geht durch "Delta Machine" ein konstanter Spannungsbogen, der trotzdem immer gut für Überraschungen ist. Nach der sehr gemächlichen ersten Hälfte, deren Sounds sehr modern anmuten ("My Little Universe" könnte auch auf "Amok" von Atoms for Peace passen), stolpert mit "Broken" ein ganz wunderbar traditioneller DM-Song herein und spätestens bei "Soft Touch/Raw Nerve" ist man tief in den 80ern, ohne sich jedoch aus der Zeit genommen zu fühlen. Dass die zweite Single "Soothe My Soul" das Arrangement von "Personal Jesus" mit Elementen und Gesangsmelodien von "I Feel You" und "John The Revelator" so schamlos kombiniert und kopiert, wollen wir ihnen mal nachsehen. Unerwarteter Höhepunkt ist ein sphärisch schwofendes Stück aus der Feder von Dave Gahan, der als Songwriter immer besser wird, namens "Should Be Higher". Als hätten Björk und Damon Albarn einen Song zusammen geschrieben, legt sich der notorische Bariton Gahan in einen "Loooove"-Falsetto-Heuler im Refrain, den man so noch nicht gehört hat. Es hat etwas ikonisches, wie das "Reach out and touch faith!" von "Personal Jesus" oder das kollektive "Wrong!" beim gleichnamigen Song von 2009. Nur nicht so düster, eher verzweifelt hoffend. Wenn das überhaupt geht.

Üblicher Effekt von Neuveröffentlichungen von Bands, die es schon seit über 30 Jahren gibt und deren Songs prägend in der Jugend waren, ist dass man danach sofort Lust bekommt, die alten Sachen mal wieder zu hören. Bei den letzten drei Alben blieb ich meist dabei. Diesmal zog es mich gleich wieder zurück zu den neuen Songs. Wenn das ein Indikator für die Langzeitwirkung sein sollte, dann glaube ich ist Depeche Mode mit "Delta Machine" ein großartiges Album gelungen. Neue Songs werden immer im Schatten von "Enjoy The Silence", "Never Let Me Down Again", "Walking In My Shoes" oder "Personal Jesus" stehen. Aber hier haben einige genug Eigenstrahlkraft um sich um den Schatten keine Sorgen machen zu müssen.

Ach ja, und wenn Martin Gores Gitarre aufblitzt, ist es eine wahre Freude.

Und über eines musste ich dann schon lachen. Ein Rezensent des Albums vermisste die "großen Melodien" der früheren Werke und führte ausgerechnet "Behind The Wheel" als Beispiel kurz darauf an. Ein Song der bis auf kleinste Schlenkerer aus einem einzigen Ton besteht, so wie auch "Never Let Me Down Again". Die großen Melodien von früher also. Nun ja. Melodien von früher kommen einem größer vor weil man sie schon so lange kennt. Der Job eines DJs ist ja, neue Melodien so in ein Set aus altbekanntem einzubauen, dass sie einen Platz im kollektiven Repertoire finden. Und das scheint eine sauschwere Aufgabe zu sein. Man muss nur einmal in so ein kommerzielles Radio wie Antenne Bayern oder ähnliches hineinhören. Oder es aus Rücksicht auf die eigene Magenstabilität doch lieber sein lassen. Aber ich bin abgeschwiffen ...

"Delta Machine" von Depeche Mode erscheint heute. Und ist - wie es mir erscheint - echt gut. Aber was weiß ich denn schon.

Highlights: Angel, My Little Universe, Broken, Soft Touch/Raw Nerve, Should Be Higher

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Geschrieben von

Ernstchen

Wortbürger. Musikmann. Mitmensch.

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