Vom Wachstum.

Ein Märchen von einem Menschen im Anzug, einer Fee und einem Gänseblümchen.

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Es war einmal ein Mensch, der einen Anzug trug. Er lebte in einer Welt aus Stein und Stahl, Glas und Gold. Eines Tages erblickte er beim Müßiggang eine Gruppe Leute, die sich um etwas geschart hatten. Er trat näher um zu erspähen worum es sich handelte. Es war ein Gänseblümchen, das sich durch einen Spalt im ewigen Stein den Weg zum Sonnenlicht gebahnt hatte. Der Mensch sah die Faszination der Leute und kaufte umgehend das kleine Stück Boden, auf dem das Blümchen blühte.

Mehr und mehr Leute kamen um das unerwartete Stück Natur zu bestaunen. Der Mensch zäunte das Fleckchen Land ein und begann, von den Zaungästen Zoll zu verlangen. Als denn bald die Begeisterung für das Blümchen zur Neige ging, sprach der Mensch bei einer Fee vor. Dass das Pflänzchen wachse und wachse und wachse, erbat er. Die Fee akzeptierte seine Kreditkarte und bald erfreute sich das Gänseblümchen eines schier unnatürlichen Wuchses. Sein Wunsch war dem Menschen teuer gewesen, aber immer mehr Leute bezahlten gerne Zoll um das stetig wachsende Pflänzchen zu sehen. Bald stand es kniehoch und die Blüte war breit wie ein Teller. Der Mensch besuchte die Fee abermals und bat, das Wachstum weiter zu beschleunigen. Innerhalb kürzester Zeit spendete ein baumhohes Gänseblümchen Schatten inmitten der Welt aus Stein und Stahl, Glas und Gold. Der Boden war weiter aufgerissen und der Mensch erwarb weiteren Grund um den prächtigen Stamm auch fortan sein Eigen nennen zu können. Die Leute zahlten freudig ihren Zoll um sich bei Regen unterzustellen und bei Hitze kühlenden Schatten zu suchen.

Der Winter nahte und die riesige Blüte thronte nunmehr über den Dächern der Welt. Das Sonnenlicht drang zu manchen der solarzellenbesetzten Dächern nicht mehr durch und der Strom drohte dort knapp zu werden. Die Leute fröstelten. Kaum jemand wollte dafür mehr Zoll bezahlen. Erste empörte Leute begannen, den Menschen zu beschimpfen. Der Mensch rief stets „Die Fee ist Schuld!“

Ein Schneesturn wehte durch die Straßen und unter der Last des schweren, nassen Schnees brachen einige der Blütenblätter der gigantischen Blume ab. Sie krachten zu Boden und verwüsteten so ganze Häuserblocks. Der Mensch wurde angehalten, sich um das weit über sein erworbenes Grundstück hinausreichendes Problem zu kümmern. Von Staat und von den Leuten verklagt ob der Verwüstungen lief der Mensch, der einen Anzug trug, verzweifelt zur Fee, doch sein Wunsch, das Wachstum der Blume zu stoppen war für ihn längst nicht mehr bezahlbar.

Die nunmehr riesenhaften Wurzeln des Gänseblümchens saugten immer mehr Grundwasser aus der vertrocknenden Erde unter dem ewigen Stein. Die Leute erfroren, verhungerten oder flohen davon. Doch der Schatten der Blume holte sie stets ein. Ihre Wurzeln drangen immer tiefer in den Boden vor und als sie den Kern erreichten, rissen sie den Planeten auseinander. Die Blume erfror mit all den Leuten in der Kälte des Raumes und das ewige Wachstum fand ein Ende. Und wenn sie nicht in eine Sonne gefallen ist und dort verbrannte, so treibt sie immernoch als riesige Eisblume durch das Universum. Und es ist nur eine Frage der Zeit bis ihr Weg den einer anderen Welt kreuzt. Einer anderen Welt aus Stein und Stahl, Glas und Gold.

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Geschrieben von

Ernstchen

Wortbürger. Musikmann. Mitmensch.

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