Wilco will love you, baby yeah!

Konzertbericht "Liebe" auf den ersten Blick war es nicht mit mir und Wilco, eher ein ziemlicher Schreck. Und dann blieb mir einfach der Mund offen stehen

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2003 fuhr ich mit Freunden das erste Mal aufs Southside-Festival in Neuhausen ob Eck oder so. Ein altes Militärflugplatzgelände, 50.000 Menschen, und am ersten Abend gleich Coldplay, Radiohead und Sigur Rós. Zu der Zeit für mich ungefähr das unfassbarste Triple das ich mir vorstellen konnte. Es wurde ein Abend voller Bier aus 1,5-Liter-Plastikflaschen, Joints in Blaubeer-Papers und Glückstränen.

Ein Jahr später fuhren wir wieder hin weil ... weil es geil war, verdammt! Klassisch mit dem VW-Bus und mitgebrachtem Heimatbier, das diesmal in Tetrapacks umgefüllt werden musste weil selbst Plastikflaschen mittlerweile auf dem Festivalgelände verboten waren. Mit Gaffa-Tape haben wir Umhängegurte an die Tetrapacks gebastelt, sonst wären wir schier verrückt geworden. Diesmal kannten wir weniger Bands und von denen die uns interessant erschienen hatten wir je einen Song auf eine Mix-CD gebrannt für die Fahrt, um sich ein bisschen auf die unbekannten Bands einzustellen. Mit dabei waren da I Am Kloot, Bright Eyes, Mogwai und eben Wilco, mit einem ganz ganz fluffigen hübschen, traurigen kleinen Popsong, "Jesus, etc."

Dass dieser nicht gerade repräsentativ für das Sextett aus Chicago ist, bekamen wir an diesem Nachmittag zu spüren. Nach den im Feuilleton des Jahres 2004 regelrecht auf Händen getragenen Bright Eyes um Frontmann Conor Oberst, eine leicht durchgeknallte Mischung aus Sufjan Stevens und Win Butler (Arcade Fire), die gar nicht mal so überzeugend waren, kamen also Wilco. Und uns wurde recht schnell klar, dass wir schlecht vorbereitet waren. Jeff Tweedy, ein eher mürrischer kleiner Frontmann der immer ein wenig wie ein skeptisches Nagetier aussah, sang und krächzte als wäre er im Labor von Bob Dylans und Neil Youngs DNA zusammengesetzt worden. Doch oft nicht sehr viel und sehr lange. Den Rest der musikalischen Erzählung übernahmen die Gitarren, scheppernd, jaulend, schreiend, kreischend. Man hatte sich gerade in den Flow eines recht freundlich anmutenden "Handshake Drugs" hineingelegt, schon kamen die Gitarren von Tweedy und dem unfassbaren "Avantgarde-Gitarristen" Nels Cline und zerschredderten den Song, bauten eine Feedback-Wand auf, in der die anderen Instrumente allmählich ersoffen bis nur noch die Lärmwand stand. Als sie verstummte, brauste der Jubel auf - sicherlich auch darüber dass der Lärm vorbei war.

Die meisten meiner Freunde konnten mit dem merkwürdigen "Country mit Noise" (Genrenerds würden sich darum streiten ob es nun "Americana mit Alternative-Rock-Anleihen" ist oder doch eher "Alternative Rock mit Americana-Anleihen") nicht allzuviel anfangen, aber ich musste bleiben, ich war angefixt. Es war nicht Liebe auf den ersten Blick, eher der Schreck und die Faszination, das Reh nachts im Licht der Scheinwerfer zu sehen, eine Vollbremsung hinzulegen und dann von dem seelenruhigen Reh angestarrt zu werden. Und das Reh sang zart und zerbrechlich die ersten Zeilen von "At Least That's What You Said" ... und dann explodierten die Gitarren und die ganze Band auf so episch-majestätische Art und Weise dass ich trotz der Hitze eine Gänsehaut bekam. Und diesen merkwürdigen ... Tränendruck? Wenn man schlucken muss und man das Gefühl hat man muss gleich losheulen? Und dabei Luftschlagzeug spielen? Genau so.

(Das Video beginnt sehr merkwürdig und hat VHS-Tonausfälle, macht aber nix)

Und als ob sie es geahnt hätten dass sie mich jetzt erwischt hatten, endeten sie ihr sehr sehr eigenartiges Set mit dem zehnminütigen Krautrock-Noise-Monster "Spiders (Kidsmoke)" und ich stand da und mir stand der Mund offen und ich musste manchmal kurz lachen über die Frechheit dieser Band, einem Festivalpublikum so ein Brett hinzuknallen, so eine Mischung aus eingängigem sehnsüchtigen leicht countryeinschlägigen Melodien - die beschwingteren, "normaleren" Nummern waren alle am Beginn des Sets - und absolutem Gitarrenwahnsinn am Ende.

Meine Freunde waren weitergezogen, aber mich hatten sie erwischt, die frische sechsköpfige Neubesetzung, die erst seit Anfang des Jahres bestand und bis heute bestehen geblieben ist:

Jeff Tweedy: vocals, guitars
John Stirrat: bass, vocals
Glenn Kotche: drums, percussion
Mikael Jorgensen: keyboards
Nels Cline: lead guitar
Pat Sansone: multi-instrumentalist

Nach dem Festival kaufte ich mir sofort das aktuelle Album "A Ghost Is Born" (2004) und kurz darauf auch das vorhergehende Durchbruch-Album "Yankee Hotel Foxtrot", auf dem "Jesus, etc." drauf war, so trügerisch fluffig wie das Kaninchen in "Die Ritter der Kokusnuss". Und seitdem ist Wilco eine meiner Lieblingsbands, weil sie mich immer wieder aufregen. Und umhauen. Und ich habe sie seitdem nicht mehr live gesehen, was ein Jammer ist. Denn wenn man sich so die diversen Live-Videos auf YouTube anschaut, wenn man sich ihre Live-CD "Kicking Television" anhört oder ihre Live-DVD "Ashes Of American Flags" ansieht, kommt man nicht umhin zu denken dass das die kreativste und beste uramerikanische Band ist, die es derzeit gibt. Und für alle Gitarrenliebhaber unter euch, hier noch einer der allerschönsten Songs und Gitarrenparts in der Geschichte der Rockmusik, meiner Meinung nach: "Impossible Germany"

Was war dein erstes Konzert?

Die "Erste Allgemeine Verunsicherung" im Jahr 1990 in Coburg oder Bayreuth, die "Neppomuk's Rache"-Tour. Ernsthaft. Ich hab nix gesehen, war noch n kleiner Stöpsel, war mit meinem Bruder und meinem Dad da.

Welches Konzert hat dich am meisten beeindruckt?

Pat Metheny Group "The Way Up" Tour 2005 in der Meistersingerhalle Nürnberg. Der Jazz-Soundtrack-Grammy-Sammler und seine unfassbare "Group" haben sich dran gemacht, eine einstündige Jazz-Sinfonie ("The Way Up", written by Pat Metheny & Lyle Mays) die im Studio zusammengeschustert wurde, live aufzuführen. Mit Bravour gelungen, ich könnte nur heulen und mit dem Kopf schütteln, wie abartig mindblowing das war. The Way Up ist vielleicht die am wenigsten eingängige Platte von der Pat Metheny Group, und die komplexeste und naja auch zum hören komplizierteste, mit allen Takt- und Tonarten in zwei Minuten verwurstet und dergleichen. Aber es ist eine unglaublich lohnende Odyssee. Hier kann man mal reinschauen:


Wen würdest du noch gern im Konzert erleben?

Depeche Mode. Unbedingt. Auch wenn Dave Gahan nicht mehr die Live-Stimme hat wie 1993, der "Devotional"-Film war der Hammer. Und es sind einige gute Songs noch dazugekommen.

Und hier die anderen Beiträge der Konzertbericht-Reihe.

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Geschrieben von

Ernstchen

Wortbürger. Musikmann. Mitmensch.

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