Ist Demokratie bloß ein abstrakter Zusammenhang? „Tisch mit Aggregat“, so heißt eine Skulptur von Joseph Beuys aus dem Jahr 1985, mit der Marie Wilke in ihrem Dokumentarfilm Aggregat zunächst nur im Titel die Verbindung herstellt. Das Beuys-Objekt steht in einer Bronzeausführung vor dem Plenarsaal des Deutschen Bundestages. Seine Elemente sind ein Tisch, zwei auf dem Boden liegende Kugeln und ein kleiner quadratischer Kasten, der auf dem Tisch steht und mit den Kugeln durch Schnüre verbunden ist. Erst am Ende des Films ist die Skulptur auch zu sehen. Da wird der Zuschauer Zeuge einer Besucherführung durch den Reichstag, bei der Beuys’ Kommunikationsmechanismus mehr oder weniger direkt als eine Darstellung der Prozesse der Demokratie gedeutet
ie gedeutet und damit in den parlamentarischen Alltag eingemeindet wird. Man habe sie extra im räumlichen Zentrum der Gesetzgebung aufgestellt, erzählt die Besucherführung, um zu sagen: „Die Abgeordneten mögen jederzeit und jeden Tag immer mal reflektieren: Wofür sind wir da?“ProblemrahmenwechselWilkes Dokumentarfilm Aggregat versammelt Szenen des politischen und medialen Alltags aus den Jahren 2016 und 2017, in denen sich Demokratie abbildet und, entgegen der verbreiteten Rede von der „Abstraktion“ der Politik, als ein greifbarer Stoff manifestiert. Dass dieser in vielen Punkten natürlich immer noch abstrakt, das heißt schwer vermittelbar bleibt, gehört zu den Meta-Aspekten der Dokumentation und wirft nicht zuletzt ein Licht auf die von Bürgerinnen und Bürgern so oft formulierte Abgetrenntheit vom Politikgeschehen.Marie Wilke, die mit Staatsdiener, einer filmischen Studie zur deutschen Polizeiausbildung, 2015 ihr Langfilmdebüt vorlegte, blickt mit großer Distanz auf das demokratische System. Gefilmt wurde in verschiedenen Institutionen, Apparaten und Öffentlichkeiten, unter anderem im Deutschen Bundestag und in dem dazugehörigen Infomobil, bei Veranstaltungen der SPD-Bundestagsfraktion und einer Pegida-Kundgebung, in Fernseh- und Printredaktionen. Die Kamera (Alexander Gheorghiu) steht auf einem Stativ und wird nur selten in Bewegung gesetzt, Wilke selbst ist als Beobachterin abwesend. Ihre Präsenz ist dennoch durchweg spürbar: durch die Materialauswahl, die eigenwillige Setzung des jeweiligen Bildausschnitts und durch eine Montage, die die einzelnen Schauplätze prägnant durch Schwarzbilder trennt.Aggregat ist ein Film der Addition oder, mit seinem Titel gesprochen: ein Film, der „anhäuft“. Da wird bei einer Veranstaltung in einer Außenstelle des Bundestages in Dresden eine Abstimmung simuliert, wobei der Besucherführer als Scherze machender Entertainer auftritt. In einem Infomobil an anderer Stelle beklagt ein Bürger fehlende Volksnähe, ein anderer lässt auf Kosten von Migranten altbekannten Dampf ab. Dann wieder sieht man bei einem Workshop Abgeordnete das Argumentieren gegen rechts proben, indem sie rechtspopulistische Thesen von einem sogenannten Problemrahmen in einen „demokratischen Rahmen“ verschieben. Eine Szene weiter lädt Martin Dulig, Landesvorsitzender der SPD Sachsen, in der Gaststätte Stadionblick zu einem „Küchentisch-Tour“ genannten Bürgergespräch, bei dem eine Frau – parteilos, wie sie sagt – ihren angesammelten Frust in Briefform zum Ausdruck bringt. Woanders skandieren die sogenannten Wutbürger bei einer Pegida-Demonstration ihre Sprüche von der „Festung Europa. Macht die Grenzen dicht“, der „Lügenpresse“ und den „Volksverrätern“. Im harten Kontrast dazu steht der optimistische Ton, mit dem der im Senegal geborene SPD-Politiker Dr. Karamba Diaby, der seit 2013 Mitglied des Deutschen Bundestages und im Stadtrat von Halle tätig ist, mit einem TV-Team durch Backshop und Schrebergartenkolonie tourt. Dann wieder wechselt der Film zur AfD-Fraktion Sachsen – Frauke Petry ist noch dabei –, die eine Pressekonferenz abhält zum System der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten. Oder zur TV-Redaktion des MDR, wo für den Beitrag „Angriff auf die Demokratie – Die Neue Rechte“ Spannungsbögen und Rampen gebastelt werden. Einige Zeit verbringt der Film auch in der Redaktionssitzung der taz, wo der Entwurf für eine Titelseite mit Pandabär und Migrationswitz auf seine Subtexte hin abgeklopft wird.Schneiden / DurchtrennenDie Szenen stehen jeweils für sich – der Schnitt hat durch das mit Nachdruck gesetzte Schwarzbild tatsächlich mehr mit Schneiden / Durchtrennen als mit Montage / Verbinden zu tun. Doch auch wenn sich die einzelnen Fragmente zu keinen Kausalzusammenhängen verketten, entstehen unweigerlich Verdichtungen. Das ist zum einen die Beobachtung eines Umbruchs innerhalb des demokratischen Systems durch das Erstarken rechter Kräfte – nicht zuletzt hält Aggregat ein historisches Moment fest, in dem die liberale Linke beziehungsweise Mitte um einen „vernünftigen“ Umgang mit dem Rechtspopulismus ringt.Zum anderen konzentriert sich Wilkes Blick auf die Sprache als ein zentrales Instrument von Kommunikation und Vermittlung. Den Medien fällt hierbei eine entscheidende Rolle zu – etwa wenn Herr Diaby von dem Fernsehredakteur auf seine schwarze Hautfarbe angesprochen und geradezu reflexhaft mit Begriffen wie „exotisch“ und „Minderheit“ bedacht wird. Oder auch dann, wenn in den Redaktionen vermeintliche Tatsachen mit den Mitteln der Fiktion – ein häufig gebrauchtes Wort ist „Erzählung“ – besprochen und aufgearbeitet werden. In Wilkes präziser Anordnung, die dennoch viel Raum lässt, verlieren sich Sprache und Bild immer wieder absichtsvoll aus den Augen und dem Sinn – so wie sich im demokratischen Alltag, um ein beliebtes Modell von Beuys zu konvertieren, auch „Sender und Empfänger“ immer wieder verfehlen.Placeholder infobox-1