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Material Über zwei experimentelle Berlinale-Filme, die sich in Räumen des Politischen verlieren
Ausgabe 07/2017
Mit 16 Millimeter durch die Sonora-Wüste zwischen Mexiko und den USA: „El mar la mar“
Mit 16 Millimeter durch die Sonora-Wüste zwischen Mexiko und den USA: „El mar la mar“

Bild: J. P. Sniadecki, Joshua Bonnetta

Was sich bald schemenhaft als Grenzzaun zu erkennen gibt, ist zunächst reiner Flickerfilm: Strukturen, Raster, Vertikalen, ein Wald, in tanzende Linien zerlegt. Übersicht gibt es nicht in El mar la mar, stattdessen: Abstraktionen, Ausschnitte, punktuelle Beleuchtung oder einfach nur tiefes Schwarz. „People get lost“, heißt es einmal aus dem Off.

El mar la mar ist eine filmexperimentelle Erkundung der Sonora-Wüste zwischen Mexiko und den USA, einem Ort irrer Natur- und Wetterphänomene, aber auch Todesfalle für Migranten. J. P. Sniadecki, Vertreter der „sensorischen Ethnografie“ (er ist Teil des Sensory Ethnography Lab an der Harvard University), und Joshua Bonnetta richten die 16-Millimeter-Kamera auf Natur, Tiere und Hinterlassenschaften: Kleidung, Plastikflaschen, Telefonkarten, Papiere, Schuhe – all das verwittert, ausgebleicht, mit Wüstensand verbacken. Menschen treten nur selten und als diffuse Konturen in Erscheinung – ihnen gehört das Off.

Zum Schwarzbild erzählen Migranten, denen der Weg durch den Raum gelungen ist, Bewohner der Wüstenausläufer, Grenzschützer: über strapaziöse Fluchten, von grausigen Funden und davon, was die Nacht vom Tag unterscheidet. Auf der imposant komponierten Tonspur hört man Schritte, Schüsse, Helikopter, Regen, Frequenzgeräusche. Einmal erklingt zu den Bildern eines gut zerknitterten Cowboys Peggy Lees Johnny Guitar; ein ikonischer Moment.

Als Landschaftsfilm ist der im Forum gezeigte El mar la mar ein ziemlich überwältigendes Stück Kino. Der politische Landschaftsfilm – und darauf wollen die Regisseure zweifellos hinaus – gelingt Bonnetta/Sniadecki aber nur bedingt, allzu vernarrt sind sie in die Ästhetik von Unwirtlichkeit und Verfall. Es ist alles so unfassbar schön – und sonnenverbleichtes Plastik auf Filmmaterial kann durchaus erhaben aussehen.

Auch Eduardo Williams’ in der parallel stattfindenden Woche der Kritik programmierter Film El auge del humano – zum Teil auf Super-16-Millimeter gedreht, zum Teil digital und vom Monitor mit 16 Millimeter abgefilmt – handelt vom Sich-Verlieren. Die Ortsspezifik von El mar la mar weicht hier aber einer Transzendenz des Raums: „Migration“ als eine frei-radikale Bewegung durchs Raum-Zeit-Kontinuum. Dabei erzählt Williams seinen Film keineswegs am Politischen vorbei – Arbeitsverhältnisse etwa spielen eine große Rolle, von prekärer Internetsexarbeit bis hin zur Computermanufaktur. Der Film folgt einem jungen Mann, später anderen Figuren über drei Kontinente (von Argentinien über Mosambik bis auf die Philippinen).

Es geht durch Straßen, Flure, Trampelpfade, Ein- und Ausgänge, über Plätze, ins Innere eines Ameisenhaufens und durchs Dickicht des Dschungels. Auch wenn Handys und Computer oft nicht funktionieren – wiederkehrende Fragen: Kann ich deinen Computer benutzen? Wo ist das Internetcafé? Hast du WiFi? –, entsteht eine Atmosphäre permanenter connectedness: Nicht nur kommt es im Film zu einer seriellen Abfolge von Begegnungen der beiläufigsten, aber auch seltsamsten Art (einmal sitzen die Figuren eng aneinandergedrängt im Inneren eines Baums); auch die Verbindung zwischen Betrachter und filmischem Raum reißt nie ab. Williams, ein digital native mit Sinn fürs Materielle, benutzt dabei alles, was ihm vor die Füße kommt, als Portal: sei es ein Screen, eine Kellertür oder eben ein Ameisenhaufen, das Technologische wie das Organische. Vermutlich gibt es in El auge del humano auch einen Eingang in die Sonora-Wüste.

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