Sag nicht immer Trumpland

Südstaaten Ein Italiener mischt sich in den USA mit seiner Kamera unter die Ausgegrenzten
Ausgabe 46/2018

Roberto Minervini macht Filme von erschütternder Nähe. Nur wenige bewegen sich in ihren Arbeiten wohl so weit – und gleichzeitig respektvoll – auf die „andere Seite“ wie der in 1970 im italienischen Fermo geborene Regisseur. The Other Side, so der Titel seines vielleicht beunruhigendsten Films, ist zunächst geografisch zu verstehen. Denn Minervini lebt und filmt in den USA, genauer: in jenen ländlichen Regionen des Südens, wohin es das Kino nur selten verschlägt – Texas, Louisiana, Mississippi. Gemeint sind mit der „anderen Seite“ aber auch die gesellschaftlichen Milieus, deren Missachtung sich in der verächtlichen Rede vom „white trash“ bereits ausformuliert findet.

Minervinis Protagonisten sind arm oder ohne Arbeit, abhängig von Drogen und Alkohol und fixiert auf das Recht, Waffen zu tragen. Manchmal steigert sich ihre Wut zu offenem Rassismus, und so wundert man sich weder über die Allgegenwart der Konföderiertenflagge noch über tätowierte Körper in „sprechenden“ T-Shirts („2nd Amendment“). Man könnte dazu natürlich einfach „Trumpland“ sagen. Doch tatsächlich sind Minervinis Filme viel zu feinnervig und eben nah an den Menschen, um ihre Welt mit groben Ressentimentbegriffen zu beschreiben. Seinem halbdokumentarischen Schaffen widmete die Viennale im ersten Jahr unter der Leitung von Eva Sangiorgi nun eine Werkschau.

Minervini Filmen sind immersive Prozesse; der Regisseur lebt viele Monate in den Communitys, er beobachtet, hört zu. Wenn er schließlich filmt – aus der Schulter, ohne künstliches Licht –, reicht ihm ein Take. Das Geld kommt aus kleinen regionalen Fördertöpfen.

Das Langfilmdebüt The Passage (2011) bildet den Auftakt zu seiner „Texas-Trilogie“. In rohen Bildern von anrührender Intimität erzählt Minervini von einer einsamen, krebskranken Mexikanerin, die auf einem letzten Roadtrip mit einem entlassenen Sträfling und einem vom Leben beschädigten Künstler zu einer Ersatzfamilie zusammenfindet. In Low Tide (2012) schreiben erstmals die Laiendarsteller das Skript, wenn die offene Erzählung einem zwölfjährigen Jungen durch seinen ereignislosen Alltag in einem Randgebiet von Houston folgt. Er besorgt den Haushalt, streift umher und sammelt mit einem alten Mann Aludosen. Seine Mutter ist zu sehr mit ihrer Sucht beschäftigt, um ihn zu beachten; ein liebevolleres Verhältnis unterhält er mit den Schlangen, Fröschen und Fischen, die ihm in der Natur begegnen.

Mit Stop the Pounding Heart (2013) findet die Trilogie einen vergleichsweise sanften Abschluss. Minervini wendet sich der insularen Gemeinschaft einer streng christlichen Familie im Bible Belt zu. Hauptfigur ist die 14-jährige Sara, die wie ihre zahlreichen Geschwister zu Hause unterrichtet wird – unter anderem über die gottgewollte Stellung der Frau – und durch die unschuldige Begegnung mit einem Rodeoreiter in eine Identitäts- und Glaubenskrise gerät.

In The Other Side (2015) verlagert sich der Schauplatz nach West Monroe, Louisiana, in eine der ärmsten Regionen der Vereinigten Staaten. Der Film lebt und atmet mit dem Junkie-Paar Mark und Lisa. Er ist dabei, wenn sie miteinander schlafen, sich einen Schuss setzen, wenn sie sich gegenseitig ihre Liebe versichern. Selbst in Augenblicken erschreckender Härte verliert Minervini nie die Aufmerksamkeit für das gestaltete Bild – und für Momente von Schönheit und Zärtlichkeit, was freilich nicht heißt, dass er das Hässliche zu verbergen sucht. Was sich bei Mark noch als gärender Rassismus eines „Vergessenen“ formuliert – Schuld an aller Misere ist „the government“ –, findet nach einem abrupten Schnitt in den Mikrokosmos bewaffneter Milizen einen monströsen Ausdruck. Ehemalige Soldaten bereiten sich in Texas auf einen bevorstehenden Bürgerkrieg vor, die „Familie“ muss beschützt werden. Bei einem wüst machistischen Ritual weißer Suprematisten simuliert eine Frau mit Obama-Gummimaske einen Blowjob, später wird ein Auto mit der Aufschrift „Obama sucks ass“ demoliert und abgefackelt.

Gut festhalten

In seinem aktuellen Film What You Gonna Do When the World’s on Fire? (2018) begibt sich Minervini erstmals auf die andere Seite dieser anderen Seite. In leuchtenden Schwarz-Weiß-Bildern begleitet er im Sommer 2017 den von rassistischer Gewalt betroffenen Alltag der afroamerikanischen Community in New Orleans und Jackson County, Mississippi. Nach der Tötung von Alton Sterling durch die Polizei und einem vermutlich dem Ku-Klux-Klan zuzuschreibenden Mord ergreift die Community eigene Maßnahmen – so führt etwa eine Gruppe der New Black Panthers, von Tür zu Tür ziehend, selbstständig Ermittlungen durch. Minervini folgt auch dem 14-jährigen Ronaldo, der seinen neunjährigen Bruder Titus fürsorglich auf die Härten des Lebens vorzubereiten versucht. Man muss sich an den Momenten von Solidarität und Liebe gut festhalten. Denn die Welt von What You Gonna Do When the World’s on Fire? wird von einem gewaltigen Beben aufgerüttelt.

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