Sonderbar. Der Mann, auf den die christlichen Kirchen sich berufen, wurde von den Gesetzeslehrern und Tempelpriestern seiner Tage als tödlicher Skandal empfunden. Unter anderem, weil er es nicht hinnehmen wollte, dass man im Namen Gottes Menschen von Menschen trennte. Wenn von Gott glaubwürdig die Rede sei, dann um Menschen zusammenzuführen, meinte er. Doch was tun die christlichen Kirchen?
In gewissem Sinne ist es erschütternd zu lesen, wie Jesus im Lukas-Evangelium sich in dem Gleichnis vom Guten Hirten förmlich dafür rechtfertigen muss, dass er all denjenigen nachgeht, die entsprechend den moralischen und rechtlichen Normen der stets "Koscheren" durchaus keine Chance zur "Umkehr" haben: Huren, die in den Augen der "Anständigen" für bloßen Abschaum zu gelten hatten; "Sünder", die mit ihrem Leben und mit den Menschen in ihrer Umgebung nicht zurecht kamen; "Terroristen", die zum militanten Kampf gegen die "Ordnungsmacht" Rom aufwiegelten und aufstanden, Angehörige der äußersten Linken jener Zeit also ...
Es ist erschütternd zu lesen, wie der Mann aus Nazareth sich mit all diesen Verlorenen und Verlaufenen an einen Tisch setzte ohne Vorbedingungen - diese Leute, die niemals hatten glauben können, dass sie dessen würdig seien, rief er in seine Nähe und erklärte sie für willkommen - und dann mitzuerleben, wie schwer Katholiken und Protestanten sich immer noch tun, gemeinsam an dem zu sitzen, was da "der Tisch des Herrn" heißt.
"Wir sind noch nicht so weit", lautet seit den Anfängen eines ernst gemeinten "ökumenischen" Dialogs zwischen den Kirchen nach dem sogenannten Zweiten Vatikanischen Konzil vor nunmehr 40 Jahren die stereotype Antwort der katholischen Kirche. "Es darf nicht sein, ehe die Protestanten nicht der römischen Auffassung vom Priesteramt zustimmen", hatte Papst Johannes Paul II. sinngemäß noch in den Ostertagen der Menschheit kundgetan. Einspruch, Euer Ehren! Was würde Jesus sagen zu einer Kirchenordnung wie der katholischen, die aus dem Zeichen der Einheit aller Menschen einen Zankapfel zur Ausgrenzung aller Menschen macht, die "ideologisch" und "moralisch" mit den vatikanischen Vorgaben nicht komplett konform sind? Lässt sich im Sinne Jesu die Einheit mit Gott an ein Prämiensystem dogmatischer "Rechtgläubigkeit" und eines "sittlich einwandfreien" Rechtverhaltens binden?
Als Katholiken und Protestanten sich vor gar noch nicht so langer Zeit in Augsburg über die "Rechtfertigungslehre" einigten, hielt man das auf beiden Seiten für einen bedeutenden Meilenstein auf dem Wege zur Einheit. Mittlerweile scheint es, als habe man nicht sowohl der Haltung Jesu näherkommen, als auch ein weiteres Stück Kirchenpolitik fabrizieren wollen. Ein Mensch kann nicht "gut" im moralischen Sinne sein, wenn er nicht einer Güte begegnet, die ihn unbedingt meint; das ist in einfachen Worten der ganze Inhalt der lutherischen "Rechtfertigungslehre". Sie entspricht durch und durch der menschlichen Evidenz des Mannes aus Nazareth im Umgang mit menschlicher Not.
Wenn auch die katholische Theologie dem zustimmt, wie geht es dann zu, dass dieselbe Kirche sogar in den eigenen Reihen Menschen die Teilnahme an der "Eucharistie" versagt, die in ihrer Ehe gescheitert sind und ihr Glück in einer neuen Beziehung suchen? Rund 300.000 Menschen jährlich betrifft allein diese Frage im real existierenden Katholizismus der BRD. Wenn die katholische Kirche anerkennt, dass alle christliche "Lehre" nie etwas anderes sein kann als eine Auslegung der "Gnade", die Jesus im Namen eines "väterlichen" (oder "mütterlichen", jedenfalls grundgütigen) Gottes gelehrt und gelebt hat, wie kann es dann mit rechten Dingen zugehen, dass die katholische Kirche den protestantischen Christen die Zugehörigkeit zu eben der Person des Mannes aus Nazareth im "Vollsinne" abspricht und sich selber an die Stelle Christi setzt?
Wohlgemerkt, die meisten Kirchenmitglieder an der "Basis" sind längst "so weit", und zwar nicht weil sie besonders theologisch gebildet wären. Im Gegenteil, weil sie weder sprachlich noch inhaltlich begreifen, was eigentlich die Konfessionen trennen soll. Es geht um Ämter, es geht um Macht, gewiss - doch sollte es bei all dem nicht um Menschen gehen - um Gott? Aus theologischer Sicht sollte feststehen, dass Gott niemals identisch sein kann mit einer bestimmten Region oder Religion oder Nation oder Konfession. Eine Kirche, die sich an die Stelle Gottes setzt, macht sich zum Selbstzweck und fängt an, der Sache Jesu wie den Menschen im Wege zu stehen.
Insofern liegt eine unerhörte religiöse Chance in dem offenbaren Verfall tradierter Kirchenmacht, der auch auf diesem Kirchentag sichtbar werden wird. Längst schon fragen die Menschen nicht mehr: "Bist du katholisch?" - "Bist du evangelisch?" Selbst die Frage der Religionszugehörigkeit - ob Christ, Buddhist, Muslim oder Hindu - beginnt sich im Bewusstsein vieler zu relativieren. Ist das so falsch?
Wer etwa wollte einem Mann wie Mahatma Gandhi absprechen, ein "Christ" im wahren Sinne des Wortes gewesen zu sein? "Ich bin Christ, Hindu und Muslim", erklärte der große Führer Indiens bezogen auf die Religionen seines Landes, "und ich bin überzeugt: Wenn man die heiligen Texte einer Religion liest mit den Augen eines Gläubigen, so wird man bemerken, dass Gott in jeder Religion zu jedem Volk in seiner Zeit sagt, was es zum Leben braucht." Andererseits erklärt er, es habe ein Christentum im Abendland nie gegeben, sonst hätten von dort nicht die schlimmsten Kriege ihren Ausgang nehmen können. Wer ein Christ ist, entscheidet sich nicht an Fragen der Lehre, sondern an der Art des Lebens, und gerade das Beispiel Jesu erlaubt in diesem Punkte kein Ausweichen oder Zurückweichen.
"Wie findet man zu Gott?" fragt sinngemäß ein Schriftgelehrter an einer berühmten Stelle des Lukas-Evangeliums einmal den Mann aus Nazareth. Die "orthodoxe" Antwort auf diese Frage müsste lauten: Gott lässt sich finden im Tempel, er wird "vermittelt" durch den Opferdienst der Priester, er wird gegenwärtig in den kultischen Handlungen. Doch wie antwortet ein Prophet auf diese Frage? Jesus erzählt zur Antwort die Geschichte vom Barmherzigen Samariter: "Ein Mann ging von Jerusalem nach Jericho und fiel unter die Räuber; die plünderten ihn leer und ließen ihn halbtot liegen. Da kam des Wegs - ein Priester." Jeder unter den Zuhörern damals wird den Affront gespürt haben, mit dem Jesus fortfährt: "Der Priester sah ihn - und ging vorüber." Darf man so antiklerikal predigen, mag man erschrocken fragen. Man muss! Denn nach dem Wortlaut des Gesetzes hat ein Priester Zeit seines Lebens kein Recht, einen Toten zu berühren; er hat kein Recht, sich mit Menschenblut zu verunreinigen, wenn er pünktlich und rituell rein zum Dienst im Tempel anlangen muss. Mit anderen Worten: Es ist die Verschmelzung von Gott mit Kult und Beamtentum, die den Priester hindert, menschlich zu sein. Doch: "Da kam auch ein Samariter", erzählt Jesus weiter. Ein solcher Mann gehört zu einem Volk, mit dem das orthodoxe Judentum sich in den Tagen Jesu seit einem halben Jahrtausend überworfen hatte, weil es nicht bereit war, den Jerusalemer Tempel mitsamt seinem kultischen Dienstpersonal anzuerkennen. Doch gerade dieser - eben weil er all die religiösen Vorurteile nicht teilt - geht hinüber zu dem Verletzten und hilft ihm, so gut er kann.
Wie findet man Gott außer in einer solchen, grenzübergreifenden Menschlichkeit? Es wird bei dem kommenden Kirchentag gewiss Viele geben, die - Bischofs- und Papstwort hin oder her - sich zur Interkommunion zwischen Katholiken und Protestanten bekennen werden. Sie sollten es nicht tun, um Recht haben zu wollen; Menschlichkeit bedarf keiner Rechtfertigung, und kein Kirchenoberhaupt hat ein Recht, sie zu hindern. Doch zu hoffen und zu erwarten bleibt auch von Seiten der Kirchenoberen, dass sie gemeinsam die Botschaft des Friedens, das Verbot des Krieges als eines Mittels der Politik, die Zusammengehörigkeit aller Menschen in aller ihnen möglichen Deutlichkeit und Entschiedenheit aussprechen. Es gibt keine "Ökumene" der Kirchen ohne eine Ökumene aller Menschen in allen Religionen.
Siehe auch: Eugen Drewermann, Jesus von Nazareth. Befreiung zum Frieden, Düsseldorf 2001
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