Die Idee davon, was den Menschen überragt und was seine Vorstellungskraft übertrifft, hat sich über die Jahrhunderte immer wieder verändert. Vor der Aufklärung war diese Idee Gott, nach der Aufklärung war es die Natur, die nicht nur schöne Bilder lieferte, sondern auch einen Schauder von Ehrfurcht erzeugte, der den Einzelnen an seine Geringfügigkeit mahnte. Im Spätkapitalismus und Medienzeitalter sind es entweder Geschäfte mit Vermögenswerten von mehreren Billionen Dollar, die einen Mann wie Alexander Driessen erregen, den CEO des Start-ups, das ein braches Ödland nahe Berlin in eine Smart City verwandeln will. Oder es sind die schieren Datenmassen, auf Serverfarms geordnet, angelegt und gepflegt, die in Turek jenes Gefühl des Erhabenen erwecken, das ihn mit Menschen der Vorvergangenheit verbindet. Dabei ist Turek Technophoriker, seine Beziehung zu Robotern ist „fast zärtlich“, er arbeitet für die Smart City und fühlt sich dort zu Hause.
Turek ist die Hauptfigur des Romans Technophoria, der im widersprüchlichen Alltag des 21. Jahrhunderts spielt: zwischen lärmigen Lastern, lautlosen E-Roller und Tesla-Karossen sieht man ihn Kaffee oder Chai trinkend oder einige Highballs am späten Vormittag; jede Woche ein anderer Kontinent, in Tokio und Osaka neueste Androide besichtigen, zwischen Ruanda und dem Kongo NGO-Gorillas besuchen oder ab in die Kommune aufs französische Land. Turek ist ein Unbehauster, weiß nicht so recht wohin, als er die Wohnung der damaligen Freundin verlassen muss, die sich nach New York absetzt, zuvor schon hatte er in seinem skandinavischen Auto übernachtet, das seine Aufgabe als Lifestyle-Accessoire also buchstäblich erfüllte, als „Einzellerhabitat“.
Aura ist eine Auster
Die Aufgabe, ein Testhaus in der Smart City zu unterhalten, kommt dem technikaffinen und Architektur-bewanderten 40-Jährigen entgegen, er interessiert sich wirklich für die Zukunft, vor allem wie man in ihr wohnen wird. Ebenso erkennbar interessiert sich Niklas Maak, der Autor von Technophoria, dafür. Treffend genau gelingen ihm die Beschreibungen aktueller Phänomene: „Jetzt standen die Autos mit ihren Ladekabeln angeleint an ihren Ladesäulen wie Hunde vor dem Supermarkt.“
Die Computer Desktop Encyclopedia erklärt, was Technophoria ist: „The euphoric feeling some people have when they purchase or use the latest computer or high-tech gadget.“ Das ist hier: Face Recognition, Exoskelett, iWatch Tag und Nacht, Health-Apps, Autos ohne Fahrer, Herzfrequenz-Kurven. Es handele sich um das Gegenteil von Technophobie, der Ablehnung von Technik, Technophorie ist damit auch einfach die Kehrseite von DIY. Dabei betreibt der Roman keine Schwarz-Weiß-Malerei. Man sieht das an Turek und Aura, die ein Paar werden, obwohl sie nicht zueinanderpassen. Die Namen sind Programm und verkörpern die verschiedenen Lebensweisen. Aura lebt alleine mit dem kleinen Sohn, in ihrem Job fischt sie aus einem akustischen Datenhaufen von Service-Telefonaten die sprachlichen Missverständnisse, zur Optimierung und besseren Fütterung der Antwort-Algorithmen. Sie ist ein Sofa-Tier, freie Zeit verbringt sie in Pullovern, „als sollten darin zwei Personen wohnen können“.
Eine lesend und schauend in sich verschlossene Auster, ein krokodilgleiches, träges Elfen-Wesen, Aura ist die von der Mobilitäts- und Reproduktionsgesellschaft Zurückgelassene, die unerreichbare Ferne, Turek dagegen ein geopolitisch offenes Feld, immer überall präsent. Seinen germanischen Vornamen Valdemar verband die Mutter mit der Illusion einer romanischen Landschaft, val-de-mar, Tal-des-Meeres. Auch sein Nachname ist sprechend: Turek in Polen gehörte bis zum Kriegsende, nachdem sie 1939 von den Faschisten überfallen und annektiert worden war, zum Reichsgau Wartheland.
Obwohl Technophoria überquillt von globalem und historischem Wissen, von kartografischen und geografischen Quantitäten und Maßen, setzt Niklas Maak alles auf die Sprache des Erzählens, macht wieder zu einem Text, was immer Bild, Zeichen oder Emoji war („quietschgelber, nach oben gerichteter Wurstfinger-Daumen“). Diese Tonlage, die immer die Sachlage darzustellen sucht, ist die des Journalisten (als Redakteur der FAZ schreibt Maak über Kunst und Architektur). Nur einen kurzen Moment will man die eingefügten Illustrationen, die Vaucanson-Ente oder die Karte vom „Mittelländischen Meer“, als eine Parodie enzyklopädischer Besserwisserei auffassen. Auch das wäre ein Missverständnis, noch die Einleitung zur Qattara-Senke in der libyschen Wüste, ein Zitat aus dem Brockhaus, ist unerlässlich in dieser nostalgischen Geschichte, die sich liest wie ein ansprechender Messekatalog, voll verlockender Angebote wie dem „Müllschlucker, der die Abfälle in einer Art Metalldarm auseinandersortierte ...“
Das will man haben, für alle. Technophoria spielt viele Möglichkeiten der Zukunft durch, ohne die eine zu idealisieren, die andere dem Spott auszusetzen. Selbst der Kontrast von Stadt und Land, von Unter-Leuten-Sein oder Allein-mit-Alexa („wie der Adel des 18. Jahrhunderts nach einem Butler geklingelt hatte“), von Zivilisation und Urwald (seinerseits eine zivilisatorische Erfindung), von Tier-Welt und KI verschmilzt hier zu einer neuen Idee des notwendigen Nachdenkens über die Frage, wie und wo wir im Weiteren leben wollen und wie viel oder wie wenig Futurismus wir uns vorstellen können.
Am Ende bleibt es der Fantasie und dem Wissen des Lesers überlassen, vorauszusehen, was mit uns geschehen könnte, wenn wir in ein kratergroßes Stromloch fallen, wo das Überleben an anderen seidenen Fäden hängt als an einer funktionierenden Funkverbindung, die uns in Echtzeit überwacht.
Info
Technophoria Niklas Maak Hanser Verlag 2020, 256 S., 23 €
Langgliedrige Figuren
Die Bilder dieser Ausgabe stammen vom Illustratoren-Duo ZEBU, das sich 2015 in Berlin gründete. Die beiden Künstler*innen sind gebürtige Berliner, sie lernten sich in der Graffiti- und Urban-Art-Szene kennen. Lynn Lehmann studierte an der Kunsthochschule Weißensee, Dennis Gärtner an der Universität der Künste. Mehr Info: www.z-e-b-u.com
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