Moussa Ould el-Assasse hieß der „arabe“, den ein Fremder niederschoss, als ein Reflex der Sonne ihn am Strand von Algier blendete. Das erfahren wir Leser spät, fast 70 Jahre später, da ist Albert Camus’ Der Fremde lange schon Weltliteratur geworden, ganze Schulklassen lernten mit dem Roman das Passé composé und das Französische. Der im algerischen Oran lebende Schriftsteller Kamel Daoud hat dann 2013 nicht wie Camus den Täter in den Mittelpunkt der Geschichte gestellt, sondern den jüngeren Bruder des Opfers, und den Camus-Lesern zum 100. Geburtstag des Nobelpreisträgers damit eine kritische Hommage gewidmet.
Kamel Daouds Der Fall Meursault – eine Gegendarstellung ist eine literarische Empörung des Erzählers darüber, wie es sein kann, dass bei allem Glanz und Ruhm, bei allen Lesehilfen, bei allen Vor- und Nach- und Lobesworten für das vermeintliche Brevier des Absurden die Frage nach dem Namen seines am Strand niedergestreckten Bruders und dem verschwundenen, ins Meer gespülten Leichnam niemanden zu interessieren schien. Dabei sind es die Leerstellen der Namen, so sah es Jacques Derrida, die den Grundstein zu einer Demokratie der Zukunft legen, zu einer Politik des anderen. Wer legt sie fest? Wer spricht in wessen Namen? Wer darf sie aussprechen? Wem gehören sie eigentlich?
Auch das Supplement des Fremden, die Gegendarstellung, erhielt Preise, wurde subito in viele Sprachen übersetzt und in den letzten Jahren auf den Bühnen von Avignon bis an die Ruhr gespielt. Der Hessische Rundfunk hat nun eine weitere, gelungene Version hinzugefügt und ein Hörspiel produziert. Die Chronologie der Camus-Geschichte ist nicht mehr erkennbar. Hier fällt der Schuss, der Moussas Leben ein Ende setzt und das von Meursault in zwei Hälften teilt, die des gewöhnlichen Angestellten und die des schuldigen Häftlings, am Beginn. Moussas Tod teilt das Leben seiner Familie in die unüberwindbare Trauer der Mutter (Cornelia Niemann), die in ihrem rachsüchtigen Schmerz den Zweitgeborenen vergisst, und in greifbare Bilder von einem jungen Mann aus den Arbeitervierteln, seine vom Hunger hagere Figur, an ein „stolzes Lächeln, wenn er seine Freunde traf“, und seine besondere Art, wie er „mit seinem Messer spielte“.
Die Frage nach dem anderen
Das Hörspiel, Sylvester Groth spricht den Ich-Erzähler, macht zu Tönen, was das Auge sonst erfasst. In die Erzählung von Haroun aus einem Algerien, das gerade die Unabhängigkeit erkämpft hat, wird die Stimme von Camus eingeschnitten, seine Utopie der Freiheit, die sich nicht im Namen der Kunst über andere erhebt, Fetzen des Italienischen sind zu hören, von Raï-Musik untermalt, Passagen und Rufe auf Arabisch. Eine überblendete, rasch geschnittene Vielstimmigkeit ist das, manches versteht und erkennt man, manches nicht. Was Kamel Daoud, Camus und Haroun auf ihre je eigene Weise erkannt haben, ist, dass Tote nicht wieder lebendig werden, auch die Literatur hat diese Macht nicht, die Toten ruhen im Massengrab der Schriftzeichen. Auch im Hörspiel geht es nicht um Namen, noch um Identität, sondern um die Fortschreibung von Literatur als Frage nach dem anderen, um die Wiederholung der Geschichten und die Möglichkeit ihrer Differenz.
Info
Der Fall Meursault – eine Gegendarstellung Kamel Daoud Hörspiel des Hessischen Rundfunks, Bearbeitung von Ulrich Lampen, Erstsendung am 26. Juli 2020, 75 Min., 18 Monate zum Download
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