Beim Münchner Regie-Festival „Radikal jung“ machte den Auftakt das Café Populaire, das war eine böse, krachend lustige Klassen-Komödie, die 2018 am Theater Neumarkt in Zürich uraufgeführt wurde. Das Stück war dafür hoch geeignet, nämlich sich einzuschauen und einzuhören in die Vielfalt junger Regie. Radikal jung ist inzwischen das wichtigste Treffen für den Theaternachwuchs weit über Deutschland hinaus, es gilt als große Bühne für junge Talente. Leiter Kilian Engels behauptet zu Recht deshalb auch, es sei das diverseste Festival.
Von Beginn an ging es bereits um alles im Hier und Jetzt, um Abstiegsdramen der Mittelschicht, die allseits bekannte zwanghafte Selbstoptimierung, fluide Identitäten und Krisen, Transhumanistisches, um Angstgefängnisse wie um die Frage, was genau mit uns passiert, wenn wir im Theater uns dem Theater aussetzen.
Nora Abdel-Maksoud – die von Theater heute als Nachwuchsregisseurin des Jahres 2017 gewählt wurde – versucht sich im Café Populaire zunächst mit einer Kritik des Lachens. Zwei Figuren verkörpern soziale Klasse und Herkunft. Svenja und Aram treten gegeneinander an, sie wollen die Gunst des Publikums durch Lacher gewinnen (das dann aber bittersüß und herzhaft lacht angesichts der Lächerlichkeit ihrer Anstrengungen). Svenjas Social-Media-Kanal hat nur acht Follower, kein Wunder, sie ist nur dann komisch, wenn die innere Sau aus ihr spricht, wenn ihre Ismen-Sprache sie verlässt, dann aber sehr. Svenjas Gegenspieler ist der so gut wie akzentfreie Schnurrbartmann Aram, der als Vertreter des Dienstleistungsproletariats auftritt. Beide, der Multi-Jobber und die Multitaskerin, geben sich mit ihren je eigenen Mitteln bedingungslos leistungsbereit im Kulturkampf – und auch, um sich neben der Arbeit und der Wohnung die Utopie eines Lebensprojekts überhaupt leisten zu können.
Anerkennung der Angst
Das Ende des Stücks kommt nicht ohne eine missgünstige Kadenz aus. Wer über das weiblich aufsteigende Kleinbürgertum und den verschwitzten, nicht absteigen wollenden Lohnarbeiter lacht, muss partout noch einmal an sein Zuschauer-Privileg im Polstersessel erinnert werden. Wer allerdings mit dem cineastischen, musikalischen und literarischen Inventar von Wes Anderson, Michael Jackson und Max Frisch derart easy jongliert und das Milieu einer abdriftenden Mittelschicht oder eine Generation ohne Utopien so treffsicher darzustellen versteht, könnte durchaus auf Moralsaures verzichten.
Nichts davon hat Durée d’exposition, inszeniert von der französischen Regisseurin Camille Dagen von der Compagnie Animal Architecte. Die bereits mehrfach prämierte Inszenierung aus Frankreich überträgt den fototechnischen Begriff der Belichtungszeit auf die Situation der Aufführung und hebt die Dauer des Stückes als eine Zeit hervor, in der Bilder entstehen, die der Realität nicht entsprechen.
Das namenlose Bühnenpaar spielt Trennungen durch und darunter auch den Abschied des Imaginären vom Realen, so lange bis eben doch die Tragödie der von Titus verlassenen Bérénice zu Tönen aus Schuberts Winterreise passt, zur Poesie von Jacques Roubaud und zu den François-Truffaut-esken Belehrungen der Madame Tabard, die ihre kurzen Liaison mit Antoine damit beginnt, festzuhalten, dass sie keine Balzac’sche Figur sei. Auf kluge und akribische Art zeigt dieses Stück das Theater als Prozess des Erscheinens neuer Bilder mit Hilfe veralteter Technik, der analogen Fotografie. Es zeigt den Abschied von alten Bildern, die Flüchtigkeit des Augenblicks und die Herstellung neuer Bilder.
In Medusa Bionic Rise wird es sportlich, es geht um unsere privatesten Utopien, um die körperliche und mentale Selbstoptimierung. Yana Thönnes, die Medizin und Regie in Hamburg studierte sowie Philosophie und Kulturreflexion an der Universität Witten, bedient das dystopische Begehren der Unterwerfung durch Körperpraktiken in einem Fitnessstudio, in dem vorgeturnt wird, aber auch mitgemacht werden darf. Wer sowieso Sneakers trägt oder die Programmbeschreibung vorab gelesen hatte, war nun im Vorteil. Im gläsernen Besprechungszimmer wird mit einem live schreibenden Screen darüber diskutiert und abgestimmt, wer sich als „human“, als „cyborg“ oder als „post-human“ bezeichnen würde, Mehrfachantworten sind möglich.
Eine Schulklasse, die für Durée d’exposition sicher nicht geduldig genug gewesen wäre, könnte hier begeistert nicht nur die Aufmerksamkeitsspanne trainieren und in dieser Mischung aus Technonacht und Workout zwischendurch etwas Bewegung haben. Sie bekäme auch Lektionen in Philosophie. Dieser Member-Club Medusa Bionic Rise ist definitiv exklusiv von der Jugend für die Jugend.
Angstpiece von Anta Helena Recke, die am Berliner Grips-Theater im Bereich Theaterpädagogik arbeitete und 2018 mit ihrer Mittelreich-Inszenierung zum Berliner Theatertreffen eingeladen war, realisiert ein Stück als Therapie und Theater. Es zeigt, dass Angst nicht auf Befindlichkeiten oder unscharfe Regung reduziert sein muss, sondern die Anerkennung als Krankheit benötigt. Es nützt daher auch nichts, Søren Kierkegaard herbeizurufen, der es bereits im 19. Jahrhundert als eine psychologische Notwendigkeit betrachtete, dass Angst „zum Vorscheine kommt“, anstatt sie zu verleugnen. Julia*n Meding leidet unter Agoraphobie und dennoch wird er zum Schauspieler und setzt sich wider besseres Gefühl dem Blick der Menschen aus und der Öffentlichkeit. Das Publikum kann nicht viel tun, außer anwesend zu sein und die Möglichkeit der Bewältigung zu bestätigen, auch wenn es sich nicht, wie der Schauspieler, zurückziehen kann, in keine Hüpfburg und in keine Videoübertragung.
Radikal schnarch
Erstaunlich ist, dass es der Jury, die für die Einladung der 14 Stücke verantwortlich war, gelungen ist, das gesamte Spektrum dessen, „was geht“, wie es die Jugendsprache sagen würde, zu berücksichtigen, abgesehen von 14 Regisseurinnen und fünf regieführenden Männern ist neben der Sensibilität für Gendergerechtigkeit kein anderes Kriterium auffällig als das der absoluten Jugend der Regisseur*innen: Neben (angemessenen) Bühnenfassungen von Literatur, neuer und alter, Goethe und Menasse, werden Produktionen gezeigt, die mitunter affirmativ für die lebenslange Selbstoptimierung werben, stehen Stücke, die mit aller Kraft der Komik letzte sozialkritische Mahnungen an eine auseinanderfallende Gesellschaft darstellen, neben solchen, die den Einzelnen längst aufgegeben haben und ihn in seiner Zersetzung zeigen.
Dass der Name des Festivals nach 15 Jahren nicht mehr zeitgemäß ist, scheint vielen Beteiligten bewusst zu sein, angesichts der Interpretationshilfen, die in alle Richtungen verteilt werden, was „radikal“ heißt, was „jung“ sei. Daher kommt der anstehende Umzug des gesamten Münchner Volkstheaters aus dem Zentrum an den Alten Südfriedhof genau recht, um das Label abzustauben.
Eva Erdmann ist Romanistin und lebt in München
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