Krimis in Deutschland sind so divers, wie kaum ein anderssprachiger Markt der Sparte das bieten kann. Gleichwohl fehlt hierzulande, der eine glaubwürdige Krimi-Dichter, der in Kontinuität die Geschichte des Landes ausleuchtet. Anderswo ist das ein erprobtes Verfahren. Es macht den Krimi nebenbei zu einer kurzweiligen Geschichtsstunde – und exportfähig. Deutschland aber kennt keinen Vázquez Montalbán und keine Batya Gur. Liegt das in der Idee einer deutschen Nationalliteratur direkt begründet? Sie nämlich will, dass im Bauernstaat ein ganzes Volk von Dichtern und Denkern lebe. Kein Wunder also, dass jede Scholle ihren Krimi-Autor hat. Diese Idee, jede(r) könne ein Dichter und Autor sein, wurde im 19. Jahrhundert in Europa als Novum bewundert. Heute dagegen gibt es wohl spannendere Fälle auszuleuchten als jede biedermeierliche Dorfleiche. Für die wenigen deutschen Krimis, die das tun, ist man also dankbar.
Klima der Nachkriegszeit
Vergleichen wir zwei: Schwarzmaler ist der dritte Band von Harald Pflug, alle sind 1945 angesiedelt. Man kennt Captain Edwards, kennt die Dienstgrade vom Private bis zum Sergeant, die mal im amerikanischen, mal im französischen Sektor für Ordnung sorgten. Wie in Tschoklet und Versteckerles arbeitet Pflug wieder mit Dialekt, selbst der Alliierte aus Hawaii Ka’hale Veelapinat spricht süddeutsches Kauderwelsch, der Name „isd etwas komplizdsierd“. Pflugs Krimireihe interessiert sich weniger für verstrickte Fälle – in Bunkern sind Skelette verschollen – als für das Klima der allerersten Nachkriegszeit. Es wird bedächtig eine bestimmte Zeit belebt, der versteckten Wehrmachtsuniformen und der genau bewachten Kohlehaufen, wie die unverhohlene Faszination für das dazugehörende Maschinengerät, Jeeps oder eine Caudron C275, deren Modellnummer rein durch Hören exakt erkannt wird. Der Autor tut das auch holzschnitthaft und lässt klischeehafte Darstellungen nicht aus, bei den „Ruski“ beispielsweise, oder den Vergewaltigungen.
Deutsche Geschichte wird auch in Mordkap inszeniert. Der Münchner Rainer Doh schließt mit seinem Debüt an die 50er Jahre an. Genregemäß allerdings startet die Handlung im ultraheutigen Tourismus: Kreuzfahrt im Eismeer, die Hurtigruten, von Hafen zu Hafen, der Seeweg der alten Ost-West-Grenze, an vielen norwegischen Ortschaften und skandinavischen Schriftzeichen vorbei. Ein Toter, der auf dem Schiff in der Kabine liegt, ist so belanglos, dass ein Azubi geschickt wird, um den notwendigen Bericht zu schreiben. Es sieht nach Selbstmord aus. Arne will alles genau so richtig machen, wie er es im Seminar „Grundlagen moderner Ermittlungsarbeit“ gelernt hat und ist bemüht, noch die eine oder andere undankbare Aufgabe mit zu übernehmen, um sich beruflich zu etablieren. Sein Gegen- (oder Mit-Spieler) ist Abteilungsleiter im BKA, der über einen Hubschrauber verfügt, wenn es brenzlig wird, und der in Berlin ahnt, dass es mit einem Bericht nicht getan sein wird. Leipold, das weiß das ganze Amt, hat Nerven wie Drahtseile. Angesichts der Vorgänge auf einem Schiff, das seine Fahrt unbeirrt fortsetzt, um niemanden zu beunruhigen, liegen sie nun aber blank.
Bilder der Beilage
Police ist die erste Monografie des international renommierten Fotografen Sébastien Van Malleghem. Der 1986 geborene, gebürtige Belgier studierte Fotografie in Brüssel. Seine Langzeitprojekte befassen sich mit dem Thema Justiz in einem vereinigten Europa. Police ist der erste Teil einer Trilogie. Vier Jahre lang begleitete Sébastien Van Malleghem belgische Polizisten in ihrem Arbeitsalltag.
Für den zweiten Teil seiner Justiz-Trilogie besuchte Van Mallaghem 2011 drei Jahre lang ein belgisches Gefängnis. Die Serie Prisons wurde im Januar 2015 mit dem vierten Lucas Dolega photography Award ausgezeichnet. Prisons wird im Sommer 2015 von André Frère Éditions herausgegeben - Van Malleghem sammelt derzeit dafür über eine Crowdfunding-Kampagne.
Der dritte Teil des Projekts ist in Arbeit, Van Mallaghem will dafür im kriminellen Milieu fotografieren.
Auch der Leser wird aus seinem Reisetraum gerissen und mit dem Neuen Kalten Krieg vertraut gemacht. Allmählich zeigt sich, dass niemand ist, was er scheint. Beim Knipsen von unzähligen Fotos mit den Hightech-Kameras sind nicht alle Schiffsgäste an der harmlos faszinierenden Küste interessiert. Nicht aufgrund seiner palästinensischen Staatsangehörigkeit wird Mahmut Habilah nachts von der Polizei abgepasst. Und wenn die Treppen durch Verfolger versperrt sind, klettern 60-Jährige locker über Docks.
Von Laien für Laien
Mordkap schockiert mit alten Foltermethoden, zeigt aber auch, was die digitale Ära darüber hinaus noch kann. Arne jedenfalls, der bei derbem Sturm rund hundert Passagiere ganz alleine darauf befragen muss, was sie gesehen haben, kann sich nicht einmal von seiner Seekrankheit gesund kotzen, ohne dass Berlin es erfährt („Hören wir da mit?“ „Selbstverständlich.“). Spionage wird nicht auserzählt, sie ist bekannter Fakt.
Der deutsche Krimi kann also beides: Geschichte und Verbrechen am laufenden Band, von Laien für Laien, sowie Thriller, die sich weder mit einem oberflächlichen Blick auf eine Leiche zufriedengeben, noch auf die Welt, wie sie bloß heute ist. Bleibt zu erkunden, ob Rainer Doh die Hurtigruten selbst gefahren ist. Der Autor aus Karlsruhe gibt unter seinen Quellen Gespräche mit den Rentnern der Stadt an. War aber allein ein hautnahes Insidertum für die Anschauung von Geschichte je relevant? Kaum vorstellbar. Authentizität war gestern.
Info
Mordkap Rainer Doh Divan 2015, 254 S., 16,90 € Schwarzmaler Harald Pflug Gmeiner 2015, 312 S., 11,99 €
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