Weit in die Vergangenheit holt der Roman Die Unschärfe der Welt aus, es scheint seine Absicht, eine zeitliche Ferne herzustellen, die von historischer Reichweite dafür umso mehr erzählt. Wenn Samuel seine Großmutter besucht, erzählt sie ihm – wobei er sich auf einem Matratzenturm schaukeln lässt –, von früher, als das Haus noch Feste feierte und viele Gäste kamen. Der Enkel bleibt als Prinz auf der Erbse übrig, hört den Geschichten von der erfolgreichen Wollwäscherei des Urgroßvaters im Großfürstentum wie einem Märchen zu. Dabei ist es Siebenbürgen. Öfter hallt in Die Unschärfe der Welt, dem vierten Roman von Iris Wolff – der auf der Longlist des Deutschen Buchpreises stand und auch
eises stand und auch für eine ganze Reihe von Preisen, unter anderen für den Bayerischen Buchpreis nominiert ist –, der Klang des Märchenlandes nach, nicht nur, weil Siebenbürgen in Transsilvanien liegt.Samuel wird groß wie ein Königskind, das nichts erschüttern kann, verwöhnt von der Aufmerksamkeit der Eltern Florentine und Hannes, verwöhnt sogar vom ganzen Dorf, als Sohn des Pastors. Auch wenn Samuel später, als junger Mann, mit dem Freund Oz, der eigentlich Oswald heißt, in das Agrarflugzeug steigt und beide der Jubel in gefahrfreier Lufthöhe ergreift, als sie feststellen, dass eine unwahrscheinliche Flucht gelungen ist, passt das ins Bild vom Märchenland. Samuel geht wie der gestiefelte Kater mit bloßen Riesenschritten über Länder und Grenzen. Dabei liegt das Banat, aus dem die Freunde fliehen, um ihr Glück an der Nordsee zu suchen, im sowjetsozialistischen, schwer verriegelten Rumänien.Die Unschärfe der Welt erzählt eine Familiengeschichte, deren Zeit sich über viele Generationen erstreckt. Die Urgroßmutter Karline hält ungebrochen an ihren Erinnerungen von der leibhaftigen Begegnung mit dem noch jungen König Michael I. von Rumänien, ihrem Altersgenossen, fest, da lebt er schon betagt im Schweizer Exil. Ihr Sohn Hannes strebt auch deshalb ausgerechnet nach einem Pfarramt im sozialistischen Land, um den Niedergang des Fabrikantenreichtums durch die Enteignung nach dem Zweiten Weltkrieg als Tröster von Gemeinden in einer Art gesellschaftlicher Restbedeutung abzufedern. In der neuen Ära gelingt das nur noch mit der Sprache, in Predigten. Sein Sohn Samuel verschafft sich die Freiheit in der Diktatur mit ganz eigenen Mitteln, auch das Schweigen, das er von der Mutter Florentine lernt, gehört dazu. Livia, Samuels Tochter, Urenkelin von Karline, wird selbst noch jung sein, als sich mit den Volksaufständen 1989 der Eiserne Vorhang hebt und ganzen Familien der Weg in den Westen offensteht. Als Samuel, das Königskind, Vater wird, wird mit der Exekution von Nicolae Ceaușescu im Dezember 1989 das Herrschaftsregime der Securitate beendet. In der erzählten Zeit ist am Ende des Romans ein Jahrhundert vergangen.Ein autobiografischer BlickIris Wolffs autobiografischer Blick auf das Banat bestimmt Die Unschärfe der Welt. Nur wer die Region, ihre Landschaften, Flüsse wie den Marosch, Städte wie Arad, ihre Geschichte zwischen Ungarn, Österreich, der Türkei, den Karpaten, Russland und Rumänien und auch ihre Aktualität kennt, kann mit diesen wenigen Strichen die politisch wechselvollen Zeiten schildern, die spätbäuerliche Lebensart der Menschen, mitten in der schon spätmodernen Ära des 20. Jahrhunderts, die weiten Felder, über die Florentine mit ihrem Sohn spaziert, die Sprachen und Dialekte, das Slowakische, das Rumänische und Deutsche, Religionen oder Kleidertrachten.Wolffs kurzer und dichter Roman ist keine transsilvanische Fantasy. Sie ist im Banat geboren, bis heute reist sie nach Rumänien. In Hermannstadt besuchte sie eine deutsche Schule, bevor ihre Eltern 1985 mit der achtjährigen Tochter nach Deutschland übersiedelten. Vor dem Fall der Mauer gelang mit Unterstützung der BRD denjenigen rumänischen Staatsbürgern die Ausreise aus der Volksrepublik, deren Vorfahren ehemals zu den Immigranten gehörten, ihre Remigration war nun eine Staatsaktion, auch den Banatern gab man im Westen amtlich neue Namen, sie wurden Aussiedler oder Rumänien-Deutsche. Unter gingen die regionalen Unterschiede aller Donauschwaben, die sich seit dem 17. Jahrhundert in Osteuropa, nicht nur im Banat, aus wirtschaftlichen oder religiösen Gründen angesiedelt hatten.Jedes der sieben gleichförmigen Kapitel ist einer Figur gewidmet, die zu Samuels Familie gehört oder die durch das gastfreundliche Pfarrhaus kommt, Nachbarn auf einen Schluck oder Studenten wie Benedikt und Lothar aus Berlin, die sich auch von einer abschreckenden Grenz- und Überwachungspolitik vom Reisen nicht abhalten lassen. Es sind wenige Figuren, die im Roman eine vertraute dörfliche Gemeinschaft ergeben, alle haben gleichermaßen keine Wahl, ihren eigenen Lebensweg zu bestimmen, sie bewahren sich ihre Eigenheiten und Schrullen.Bei Karline ist es die Knopfleiste, die zu jeder ihrer Blusen gehören muss und der es gelingen soll, die ganze Knopffabrik zu verdecken, in der die Tochter aus der Zeit der könig-kaiserlichen Herrlichkeit nun ihren gesellschaftlichen Beitrag am Fließband zu leisten hat. Bei aller Grobschnitzigkeit der Figuren des Romans, bei allem autobiografischen Anklang verweist die Autorin auf komplette Kulturgeschichten, wie die des Knopfes, der von der Luxusware zum Industrieprodukt eine wechselvolle Geschichte hatte. Auch an die Aus- und Einwanderungsrichtungen deutschsprachiger Kolonisten, mitsamt ihrer Möbelkarren, Essgewohnheiten, Kleiderordnungen von den Stoffen bis zu den Rüschen des Nachthemds und bis heute übrig gebliebenen, kaum mehr bekannten Wörtern, erinnert Wolff über das Banater Gebiet hinaus exemplarisch, ohne in dokumentarische Exkurse abzuschweifen oder eine historische Landeskunde zu betreiben. Es bleibt allein dem Leser überlassen, seiner Neugier freien Lauf zu lassen.Iris Wolff hat einen märchenhaften Familienroman geschrieben, der sich nicht besser einfügen könnte in die aktuell weit verbreitete Sehnsucht nach Herkunft und in die Debatten über das wirkliche Gewicht von Wurzeln, ihre Willkür oder ihre Trivialität. Es ist ihr auch gelungen, einen Roman über das Deutsche als einer minoritären Sprache zu schreiben, einer kleinen Sprache unter vielen, in einem multiethnischen und mehrsprachigen Kontext, wie sie die Siedler durch die Jahrhunderte in ihren Communities gesprochen, in den Städten auch gelebt hatten. Samuels Familie, soweit die Fiktion, gelingt es gar, die Freiheit ihrer Traditionen zu bewahren.Placeholder infobox-1
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