Tante Taliban

München Wo der terroristische Anschlag zur Möglichkeit geworden ist: André Pilz’ Roman „Der anatolische Panther“
Ausgabe 46/2016

Einen Roman „von unten“ zu schreiben, ist ein schwieriges Unterfangen. Man kann von dort schreiben, klar, aber das Buch kommt, gleichgültig wessen Geschichte erzählt wird, oben an, beim Publikum. Der anatolische Panther mit seiner fast schon klassischen Sozial- und Milieustudie von André Pilz kommt dort gut an, auch weil die Obergrenze der eingesetzten Vulgarismen etwa bei „fuck-o-mio“ erreicht ist. Erzählt wird aus der Perpektive des 24-jährigen Tarik Celal. Er lebt in einem Münchner Plattenbau, einer Welt der Underdogs, in der man sich grob oder zärtlich mal Tante, mal Taliban nennt (egal woher man kommt) und in der man sich nicht denken kann, jemals in seinem Leben dem Bolzplatz im Perlacher Forst den Rücken zu kehren, und sagen wir, Literatur zu lesen, man liest den Navy-Seal-Survival-Guide. Man passt aufeinander auf, hilft, aber den Hass gibt es natürlich auch. Die Jungen pflegen die Babas und die Kids, Tarik ist einer, der sich ebenso viel kümmert, wie er gerne feiert. Die Alten wissen wenig von dem, was vor sich geht: Drogen, Megaflatscreens, Dealerware. Und Fußball. Dabei heißt der Held der Multikulti-Truppe nicht Manuel Neuer, er heißt (interessanterweise) Ferenc Puskás. Es glänzt allein eine lange vergangene Zeit.

Bei den Bad Boys treffen das wahre Leben und die globale Misere zusammen: München 1860, Griechenland am Abgrund, Willkommenskultur 2015, Jägermeister, geläuterte Skins, Peschmerga-Kämpfer, 1000 Jahre Angst der Deutschen, 15 Jahre Chemie-Studium ohne Anstellung, Srebrenica, Nacktfotos auf iPhones, Rassismus in Shitstorms, kein Geld für Abendessen, auch nicht in der Wohlstandsstadt. Und: zwei junge Männer in dieselbe Frau verliebt.

Einen deutschen Pass hat Tarik schon immer, bleibt aber der Ausländer per Namen, Bart und Haar. Mit Glück hat er sich aus einem Verfahren gewunden und lebt auf Bewährung. Nun kommt der Druck, dem er standhalten soll, von mehreren Seiten. Die kleinkriminellen Freunde wollen ihn dabeihaben, und der Kriminaler Beer auch. Obendrein ist er einer Medizinstudentin verfallen. Beer schickt ihn in die Moschee, wo er sich umhören soll. Imam Abdelkader al-Anbari macht dort gar nichts, er redet nur, auch auf Youtube und in süddeutschen Kleinstädten vor 30.000 gebannt bezauberten Zuhörern. Von nah und fern beherrscht Abdelkader das Vertrauliche, auch face-to-face webt er sich aus Schmeichelreden einen dicken Schafspelz, selbst der Spion ist berührt. Aber Tarik ist eben auch deutsch genug, um zu wissen, was Herrenmenschen sind und woran man sie erkennt, aus reiner Anschauung weiß er das, ohne eine Nietzsche-Lektüre. Hat al-Anbari die Drähte für ein Attentat gezogen und zieht er weitere Schläfer heran?

Ibo fährt den schwarzen BMW

Die romantischen Zugaben dieses Krimis mitten aus der Ära des terrorisierten Alltags, die keine Verbrechen als Aufhänger benötigt, nur noch den Verdacht, tragen zu dem Bild des weichen Kerns in harten Jungs bei. Letztlich bewährt sich die irritierende Ich-Perspektive. So genau will man nicht wissen, weder was mancher Derwisch noch was manche Frau im Schilde führt. Die Freundin Nteba weiß von nichts. Den Gegenpart zu Tarik bildet Ibo Breazu, er fährt den schwarzen BMW, gehört zu den Roma, ist von den beiden der erfolgreichere Gangsta und hat oft eine andere Auffassung. Während der verträumte Tarik an „allāhu akbar“ glaubt und Allah für überhaupt alles dankt, was ihm an Gutem in seinem Leben widerfahren ist, spielt das für Ibo keine Rolle: „Wir haben keinen eigenen Gott. Wo immer wir sind, klauen wir den, der schon da ist, oder mischen sie ein bisschen.“

Die Aktualität dieses Krimis liegt in der spannenden Verschiebung fort vom Auftakt einer vollstreckten Tat, die möglicherweise nicht einmal stattgefunden hat, zu einem hypothetischen Verbrechen ans Ende der Geschichte. Auf eine Auflösung am Happy Ending dürfen die Leser nicht hoffen. Dazwischen erzählt der Plot von der Präsenz der Gewalt und wozu sie wen zwingt. Dabei müssen wir zum Beispiel diese latente Gewalt rhetorisch-charismatischer Gruppenideologien nicht verstehen. Sie ist nicht gottgegeben, sie geht aus keinem Naturgesetz hervor, sie entsteht in Gesellschaften, unter anderem in Milieus, wie André Pilz es beschreibt. Die Aufmerksamkeit seiner Leser lenkt Pilz vielmehr auf die Frage, wo sie beginnt, bei der Paranoia, bei der Predigt oder beim Kiffen?

In diesem Krimi geht es um mehr, um mögliche Mittel zur Verhinderung von Gewalt. Konkret heißen sie in diesem Fall: mehr Fußballspielen in Obergiesing, Sex sells nicht immer, und auch Tarik muss das schließlich verstehen, weniger Parolen und sicher nicht „Euer Hass ist unser Stolz“ – auch nicht im skandierten Chorgesang.

Der anatolische Panther ist der fünfte Roman des Autors, und seine Werke werden, der anhaltenden Multimediatisierung und Vielverwertung angemessen, im Theater aufgeführt, verfilmt und auf einem Blog bespielt. Pilz schreibt über Skins, Prostitution, Hooligans, und sie kommen alle „von unten“. Er habe, so sagt André Pilz in einem Interview, „die Schnauze voll“ gehabt „von Pop-Literaten, die von ihren Yuppie-Tussis in ihren Cabriolets schreiben, mich haben die Typen im Stadion mehr interessiert“. Gut, jeder schreibt, wovon er kann. Pilz hat die „Unterschicht“ zu seiner Sache gemacht und sich damit der Gefahr der spätbürgerlichen Sozialromantik ausgesetzt – durch den Blick auf eine Welt, von der das Bürgertum immer ausgeschlossen bleiben wird, von einer Welt, die sehr gut ohne Romane, noch mehr ohne Krimis leben kann. Tarik jedenfalls, der panthergleich Fußball spielen kann, ist weder Aufführung noch Verfilmung zu wünschen.

Info

Der anatolische Panther André Pilz Haymon Verlag 2016, 448 S., 12,99 €

*Die Fotos der Beilage

Kamil Sobolewski, geboren 1975 in Gdansk, Polen, studierte Fotografie an der Berliner Ostkreuzschule. Für seine Arbeit „Rattenkönig“ wurde er unter die neun Finalisten im Fotowettbewerb „gute Aussichten – junge deutsche fotografie“ für das Jahr 2015/2016 gewählt. Die Jury schrieb, Sobolewski begebe sich auf eine Reise ins Innere. „Die kleinen schwarzweißen Formate zeigen eine metaphorische Reihung unterschiedlicher Gefühls- und Bewusstseinszustände, in denen es um existenzielle, grundsätzliche Fragen geht. Aus den kraftvollen, existenzialistisch durchhauchten Bildern geht eine Mischung aus Trotz und Resignation, Aggression, Kampf und Zärtlichkeit hervor.“ Mehr Informationen zu Kamil Sobolewskis „Rattenkönig“ (in Englisch, 14,8 × 21 Zentimeter, 64 Seiten, 24 Euro) unter dienacht-magazine.com

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