Tödliche Sackgassen

Krimi Hideo Yokohama und Youngha Kim berichten in ihren Romanen von Serienmördern
Ausgabe 19/2020

Katsumasa Shiki, Leiter der Abteilung für Gewaltverbrechen, steht in Hideo Yokoyamas Krimi 50 kurz vor der Festnahme eines pädophilen Serientäters, als ein neuer Fall dazwischengerät. Shiki, Spezialist für Verhöre und ein „unbestechliches Ass der Kriminalpolizei“, wird für die Befragung des Kommissars Sōichirō Kaji gebraucht. Kaji hat seine Frau erwürgt, am Todestag des an Leukämie verstorbenen Sohnes. Mit kaum fünfzig Jahren war Keiko Kaji an Alzheimer erkrankt, das Delikt ist „Tötung auf Verlangen“. Im Verhör ist das Geständnis sofort ausgesprochen, komplizierter erweist sich die Frage, was Kaji in den zwei Tagen danach vorhatte, bevor er sich stellte: Selbstmord oder Weiterleben oder Besuch einer Sexarbeiterin? Während der verdächtigte Serientäter zwar dingfest gemacht wird, gerät diese Aufklärung in den Hintergrund, um das Ansehen der Polizeibehörde nicht zu beschädigen.

Biongsu Kim dagegen führt ein unbehelligtes Leben. Kim, der Protagonist der Aufzeichnungen eines Serienmörders von Youngha Kim, wird weder gejagt noch verdächtigt, sein Leben geht langsam friedlich zu Ende. Der 70-jährige Erzähler gleitet in die Demenz und greift in seinen letzten Bewusstseinsmomenten zu Notizen und einem Voicerekorder, um nicht zu vergessen, was er in seinem Leben getan hat, ebenso wie um sich daran zu erinnern, was er in der kurzen Zukunft, die ihm bleibt, noch zu erledigen hat. Sein letzter Mord in der langen Reihe ist Jahrzehnte her, seitdem lebt er zurückgezogen mit der Tochter Unhi in der Provinz. Im Bambushain hinter dem Haus achtet er besonders darauf, sich an den spitzen, zurückgelassenen Stümpfen nicht zu verletzen. In Jutae Park trifft er auf sein Alter Ego, einen jungen Mann, dessen innerste geheime Absichten er zu kennen meint und sieht sich mit seinem Tötungsdrang neu konfrontiert.

Mehrere Stränge werden bald ineinander geflochten: die fortschreitende Demenz, der junge Mann, der Beethoven hört, Literatur liest und Gedichte geschrieben hatte, und die Ermittlung zurückliegender Morde durch hartnäckige Kriminalisten, Gesichter und Namen seiner Opfer, die Kim kaum im Gedächtnis behalten kann, zuletzt war das eine Pflegekraft. Die Aufzeichnungen eines Serienmörders von Youngha Kim und 50 von Hideo Yokoyama sind grundverschieden ausgedacht und geschrieben. Umso erstaunlicher ist die große Schnittmenge, es lohnt sich die verschränkte Lektüre: serielles Morden, das Vergessen im Alter und die Familie, die bis heute Tragödien von antikem Format hervorbringt, Schlachtgesänge japanischer Dynastien nachhallen lässt und die Schatten der Verwüstungen von Korea- und Vietnamkrieg wachhält. Die Matrix von Vater-Mutter-Sohn-und-Tochter führt Täter wie Leser in fatale neue Sackgassen. Dabei spielt 50 in den Jahren um das Millennium, die Aufzeichnungen eines Serienmörders in einer medienmodernen Zeit, die weltweit CSI-Serien schaut, das koreanische Original war 2013 erschienen.

50 ist von Nora Bartels direkt aus dem Japanischen übersetzt worden. Nachdem 64 von Hideo Yokoyama zu einem internationalen Bestseller wurde, muss nun der ältere, ebenfalls seitenstarke Krimi 50 nicht mehr den Umweg über das Englische nehmen. Auch 50 spielt an keinem konkreten Ort, die Figuren bewegen sich zwischen einem Bahnhof K und einem Bezirk S, nur der Shinkansen-Zug und Tokio, wohin Kaji nach der Tat reiste, sind erkennbar japanisch. In sechs Kapiteln wird aus sechs Perspektiven aus den verzahnten Etagen der Machtapparate erzählt, auch ein Staatsanwalt, Morio Sase, der Journalist Nakao und der Gefängniswärter Koga schildern ihre Sicht auf den Fall Kaji. Es sind passionierte Männer voller Aufrichtigkeit, Wahrheitssucher, die aus einem Vernehmungsprotokoll herauslesen, was daran stimmen kann und was bestimmt nicht stimmig ist. Sie tun sich zu einem Erzählerbund zusammen, dem die weniger interessierten Karrierebeamten auch in einer auf strikter Hierarchie gebauten Gesellschaft nicht das Wasser reichen können. Sie sind von der Vision einer Gerechtigkeit überzeugt, die von den dafür eingesetzten Institutionen eingelöst wird.

Schmaler Umfang, karge Sätze

Die Aufzeichnungen eines Serienmörders sind ein Ein-Mann-Stück, das aus einer Kurzgeschichte hervorging, aus dem Koreanischen wurden sie von Inwon Park übersetzt. Dabei dürfen der schmale Umfang und die kargen Sätze nicht täuschen. Die knappe Sprache wird dem betagten Ich-Erzähler angepasst, so wie sie in mancher Kinderliteratur verwendet wird, um überkomplexen Beschreibungen aus dem Weg zu gehen, hier, um sich zu einer stilistischen Pseudo-Authentizität zu verdichten. „Zu lange habe ich den braven, einfältigen Menschen gespielt.“ Sie grundiert die Aufzeichnungen in einem poetischen Ton und es ist nur folgerichtig, dass sie kein Kriminalroman sein wollen, das Morden spielt sich im Hintergrund ab. Einige Romane von Youngha Kim, der in Südkorea eine wichtige literarische Stimme ist und seit 2018 koreanische Literatur an der Columbia University in New York unterrichtet, sind bereits ins Deutsche übersetzt worden und greifen nach ähnlichen Themen (Der Sterbehelfer, Konkursverlag 2013). Keiner seiner Romane lehnt sich jedoch so eng an die Handlungselemente eines Krimis an. Die wichtigste Gemeinsamkeit des üblich spannenden Krimis 50, in dem ein Serienmörder in Vergessenheit gerät, und des poetischen Lebensberichtes eines solchen in den Aufzeichnungen zeigt sich in dem literarischen Sinn, den sie entfalten. Ohne die Kalligrafie, die Kajis Wohnungswände ziert, können die Ermittler den Tatsachen nicht auf die Spur kommen. Ohne Kims notierte Erinnerungen an Krapp, der sich ebenfalls auf der Bühne mit sich selbst unterhält, aus Das letzte Band von Samuel Beckett, ohne die zitierten Sutras, Jorge Luis Borges, Nietzsche und Odysseus würde das Ausmaß seines Gedächtnisverlustes auf gefährliche Weise unterschätzt.

Info

Aufzeichnungen eines Serienmörders Youngha Kim Aus dem Koreanischen von Inwon Park, cass Verlag 2020, 152 S., 20 €

50 Hideo Yokoyama Aus dem Japanischen von Nora Bartels, Atrium Verlag 2020, 368 S., 22 €

Ende, Anfang

Die Bilder unserer Krimibeilage stammen vom Fotografen Yorgos Yatromanolakis, dem Zeit seines Lebens Naturwanderungen halfen, Inspiration und seinen Frieden zu finden. Die Serie The Splitting of the Chrysalis and the Slow Unfolding of the Wings entstand während eines Heimataufenthaltes des griechischen Künstlers, der hier immer wieder das Thema der Metamorphose behandelt, so ist auch der Titel der Reihe an den Lebenszyklus des Schmetterlings angelehnt. Mehr über Yorgos Yatromanolakis und sein Projekt erfahren Sie auf seiner Internetseite www.yatrom.net

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