Wo sie Michif sprechen

Linguistik Etruskisch, Hopi, Navajo: Der kundige „Atlas der verlorenen Sprachen“ klagt nicht – und weckt dennoch Nostalgie
Ausgabe 42/2020

Aber wie können Sprachen denn verloren gehen? Verliert man sie wie einen Schlüsselbund, wie eine Eintrittskarte? Obwohl Der Atlas der verlorenen Sprachen rund 50 solche weltweit verteilten Sprachen vorstellt und in übersichtlichen Absätzen an sie erinnert, manche ihrer Sprecher mit Namen kennt, die Aussprache erklärt und Kostproben gibt, bleibt der Titel dieser beachtlichen Sammlung vom Nuu-cha-Nulth über das Himba, das Mlarbi, das Sami oder das Wangkangurru auch nach dem gelehrsamen Studium des Bandes aus dem Duden-Verlag ein Fragezeichen. Das mag daran liegen, dass die Trennlinie zwischen Sprachen, die in der Geschichte untergegangen sind, und solchen, die bestehen blieben oder sich gar neu entwickeln konnten, bislang anders benannt wurde; dem Menschen näher, dem Gegenständlichen ferner, sprach man doch von toten Sprachen einerseits, von lebenden Sprachen andererseits. Der von Rita Mielke herausgegebene Atlas der verlorenen Sprachen verzichtet dahingegen auf das Pathos des Sterbenden, das die humanistische Klage über das Verschwinden von Sprachen bestimmt. Geleitet wird die stattliche Auslese sprachhistorischer Anekdoten und beachtlich hochspezifischer Einzelkenntnisse verschiedener Sprachen, für die ein ganzer Forschungsverbund einige Zeit zu recherchieren hätte, von einem musealen Blick.

Eine imaginäre Weltreise

Nach dem Cover, das einen Globus zeigt, ganz wie er früher die Schreibtische zierte, wo jeder auf seine eigene imaginäre Weltreise gehen mochte, geht auch das Inhaltsverzeichnis topografisch vor und sortiert jedem Kontinent eine Auswahl mehr oder weniger exotischer Sprachen zu, Irokesisch, Navajo oder Etruskisch dürften zu den bekannteren gehören. Die kurzen Kapitel führen nach und nach in die Gebiete, in denen etwa das Michif gesprochen wird – bis heute, im Südwesten von Kanada, einer Verbindung des Cree mit dem Französischen –, in denen das Unserdeutsch entstanden war, im ehemaligen Deutsch-Neuguinea in Ozeanien, als Folge der Isolierung und gewaltsam erzwungenen Missionierung einheimischer Kinder, oder das polysynthetische Dalabon, ebenfalls in Australien, das dem Empfänger ein großes Wahrnehmungsvermögen abverlangt, da viel in einem einzigen, dann überlangen Wort gesagt werden kann. Ein knappes Datenblatt leitet jede Sprache ein, es gibt Auskunft über ihr Schriftsystem, die Sprachfamilie und ihre geografische Verbreitung. Gefährdet und im Verschwinden sind sie gleichermaßen.

Dem Linguisten, der sich mit Sprachen wissenschaftlich beschäftigt, sind Sprachatlanten gewohnte Infoquellen, oft allerdings als unhandlich überformatiges Kartenwerk, in das lokale oder regionale Spracheigenheiten eingetragen sind, vom „Weggle“ bis zur „Schrippe“ und zum ortsgerechten Gebrauch des rheinischen Rs. Nicht so Der Atlas der verlorenen Sprachen, der eine gelungen sachkundige Mischung aus Poesiealbum und Bildband für den Couchtisch geworden ist. Die Illustrationen von Hanna Zeckau tragen sowohl zu der kartografischen Veranschaulichung mit wenigen Strichen und erkennbaren Markierungen bei, wie sie mit Bild- und Wortkarten zum einfach memorierenden Spracherwerb assoziativ einladen. Zusätzlich ergänzen ihre Illustrationen das exotische Flair durch Dekos aus Flora und Fauna. In die kursorischen Geschichten sprachlicher Kuriositäten sind Blumen, Papageien und Schnecken, kultische Figuren und Instrumente gestreut. In jedem Fall ruft dieser Atlas der verlorenen Sprachen bereits die Amateure der Linguistik auf den Plan, denn begrifflich ist er voraussetzungsreich. Wer kann schon wissen, was „agglutinierend“ ist, auch wenn es in Nebensätzen erklärt wird; was ein „taxonomischer Name“, ein Erzählpartikel oder ein Soziolekt?

Zusammengetragen wurde für den Atlas der verlorenen Sprachen, was in der globalen Welt unseres Jahrhunderts bereits Geschichte ist: die Beschwörung einer Muttersprache, für die Zweit- und Drittsprachen stets lose Anhängsel bleiben und die Beschwörung einer Identität, die an dem Prinzip der Sprache als homogener Einheit festhält. Dabei weiß dieser Atlas auch, dass Sprachen verloren gehen durch „brutale Diskriminierung“, durch Kolonisierung und durch politische und gesellschaftliche Prozesse, die ihrerseits nach hegemonialen Einheiten streben.

In der Geschichte der Unterdrückung von Sprachen spielte es keine Rolle, wie verbreitet, wie kultiviert sie waren. Das großmächtige Osmanisch wurde ebenso verdrängt wie zuvor das Koptische im Arabischen unterging wie das weniger verbreitete Tofalarisch im südsibirischen Sajangebirge in der Geschichte nicht bestehen konnte.

Wer sich auf eines der vielen Sprachbeispiele einlässt, auf „tömö’ taawa tatkyaqw yámangwu“ aus dem Hopi, wird unwillkürlich an „jolifanto bambla ô falli bambla“ erinnert. So beginnt die Karawane, ein Lautgedicht, das der deutsche Dichter Hugo Ball vor rund 100 Jahren uraufführte. Der Dadaist poetisierte damit sowohl die Sehnsucht seiner Zuhörer nach dem anderen wie er ihr vermeintlich Eigenstes, ihre Sprache, ins Absurde verwies. Das Gedicht wird dada bleiben. Obwohl Der Atlas der verlorenen Sprachen die Bedeutung der Sprach- und Kulturforscher, darunter Humboldt, Benjamin Lee Whorf und Margaret Mead für den Erhalt von Sprachen kaum in einem Kapitel auslässt, bleibt hauptsächlich der Eindruck einer Nostalgie zurück, für einen poetischen Exotismus, der in jeder Sprache stecken mag, und besonders dann, wenn sie verloren ist.

Info

Atlas der verlorenen Sprachen Rita Mielke (Hg.), Hanna Zeckau (Illustr.), Duden-Verlag 2020, 234 S., 28 €

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