Das Jahrhundert des Verrats

Ohne Judas wäre Jesus nichts Religion und Politik kreuzen sich in den Begriffen Erlösung, Opfer und Loyalität
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Zwei Männer begrüßen einander in einem nächtlichen Garten. Der eine umarmt den anderen, küsst ihn und nennt ihn ehrerbietig "Rabbi", der andere erwidert: "Bist du dazu gekommen, Judas?" Der Verrat des Judas ist die Urszene einer Konstellation von Verbindung von Religiösem und Politischen, eine scheinbar einfache Tat, ein Treuebruch, vielleicht ein Abfall vom Glauben an den, den er mit einem Kuss bezeichnet und ausliefert. Verrat ist die Aufkündigung der Loyalität, der Verräter ist der Freund, der plötzlich zum Feind wird. Im Wechsel der Lager, in der Übertragung eines Wissens, das für die einen den Sieg, für die anderen die Niederlage bedeutet, ist der Verrat nicht zuletzt zum Prototyp des politischen Verhaltens im zwanzigste