Alles zum Teufel

Ruinenwächter Endzeitstimmung in Kuba - für die Protagonisten der neuen Bücher von Leonardo Padura, Antonio José Ponte und Wendy Guerra ist die große Frage: bleiben oder gehen

Sich weiterhin durchschlagen nach bereits über einem Jahrzehnt der Mangelwirtschaft, sich Freiräume schaffen in einem System der intellektuellen Gängelung, sich mit der Hoffnung auf bessere Zeiten begnügen, sich abfinden damit, dass so mancher Freund darüber die Geduld verliert und geht - für die meisten Kubaner ist dies der Alltag. In unseren Breiten haftet dem der Hauch des Unbekannten an, und so erfreut sich kubanische Literatur, die sich diesem Alltag widmet, im deutschsprachigen Raum zunehmender Beliebtheit. Hinzu kommt, dass sich die meisten Autoren in Form und Stil Originelles einfallen lassen und durch Sprachgewalt bestechen. Und erfreulicherweise bedienen sich nur wenige von ihnen der gängigen, meist sexuellen Klischees, die zwar die Auflage erhöhen mögen, aber nur selten die literarische Qualität.

Leonardo Padura, 1955 in Havanna geboren, bedient sich des Kriminalromans, um zu bewältigen, was ihn umtreibt, wenn er sich in seiner Heimatstadt Havanna umschaut. Sein Serienheld Mario Conde, ehemaliger Polizist, Detektiv und Antiquar, gehört nicht zu den wild um sich schießenden, sich prügelnden Vertretern seiner Spezies, sondern zu den nachdenklichen, die an ihren Fällen leiden - und an den Verhältnissen.

In Der Nebel von gestern geht er zum sechsten Mal auf Spurensuche, wieder moralisch unterstützt von seinem im Angola-Krieg zum Querschnittsgelähmten geschossener Freund Carlos, von dessen Mutter Josefina, die begnadet kocht, wenn es denn etwas zu kochen gibt, und von Tamara, in deren Armen er gelegentlich Trost findet.

Die Geschichte ist schnell erzählt: Condes Hauptberuf führt ihn in ein ehemals hochherrschaftliches Haus, dessen Besitzer, ein ältliches Geschwisterpaar, ihre wertvolle, mit jahrhundertealten Werken bestückte Bibliothek für einen Spottpreis versilbern müssen, um zu überleben. Unter den Büchern findet der Detektiv einen Zeitungsausschnitt, der von einer einst gefeierten Bolero-Sängerin berichtet, die auch sein Vater in der vorrevolutionären Zeit verehrt hatte. Zunächst aus Neugier macht sich Conde auf die Suche nach der Sängerin und vermutet bald ein Verbrechen. Jemand wird durch die Nachforschungen aufgeschreckt, denn es gibt einen Toten zu beklagen.

Der Plot ist schlüssig, die Verwicklungen sind gut erfunden und spannend erzählt, doch der besondere Reiz des Romans liegt in der Stimmung, die Padura vermittelt: Endzeitstimmung. Sämtliche Werte, die die Revolution einst propagierte, sind zum Teufel, alles ist käuflich, wenn nur der Preis stimmt. 1959 hatten die Revolutionäre die amerikanische Mafia vertrieben, um rund fünfzig Jahre später nicht zu verhindern, dass sie durch eine hausgemachte ersetzt wird, die skrupellos den Ausverkauf von Kulturgütern betreibt und längst auch vor Drogenhandel und Gewaltverbrechen nicht mehr zurückschreckt.

Conde und die Seinen haben einmal zu denen gehört, die an die Revolution geglaubt hatten. Fassungslos, dass sie sich so haben täuschen lassen, ziehen sie sich, wie viele Kubaner aus der Generation der über 45-Jährigen, aufs Private zurück und ertränken ihren Kummer im Rum. Und Carlos, der Kriegsversehrte ohne staatliche Hilfe, begeht in seinem Rollstuhl Selbstmord auf Raten, indem er sich zu Tode frisst. Hans-Joachim Hartstein hat wie immer gut übersetzt und so wurde Der Nebel von gestern zu einer runden Sache für Krimi- ebenso wie für Kuba­freunde.

Vorausgesetzt, man interessiert sich für Bücher, die gänzlich aus dem Rahmen fallen, wird man Der Ruinenwächter von Havanna verschlingen. Nicht etwa, weil es gilt, um einen Protagonisten zu bangen oder herauszufinden, wer der Mörder ist. Es ist Antonio José Pontes Erzählweise, seine Sprache, seine Metaphorik, seine Art, zu vergleichen, was man bislang für kaum vergleichbar hielt, die verblüffen, den Kopf schütteln lassen oder zum Lachen bringen - und faszinieren.

Zunächst zur Form. Der 1964 im kubanischen Matanzas geborene Ponte hat keinen Roman geschrieben, und eine Schublade für den Ruinenwächter zu finden, fällt schwer. Auch die - durch das Inhaltsverzeichnisses genährte ­- Annahme, es handle sich um vier Kurzgeschichten oder voneinander unabhängige Essays, leitet in die Irre, denn der Autor führt seine Fäden immer wieder zusammen. Mit der Bezeichnung "Essayistische Prosa" ist das Buch wohl am besten beschrieben. Doch will man diese näher definieren, gerät man erneut in Schwierigkeiten. Zum einen enthält der Text Ansätze von Literaturkritik, etwa wenn sich Ponte bei einem legendären Vorbild ­- nämlich Graham Greenes Roman Unser Mann in Havanna - bedient, um die Stadt zu beschreiben, die fremden Besuchern präsentiert wird und die so wenig mit der kubanischen Realität gemein hat, oder wenn er auf die Romane kubanischer Schriftstellerkollegen eingeht, um über die Spannungen zwischen Emigranten und Daheimgebliebenen zu sinnieren.

Obendrein flicht Ponte - der in der Ich-Form schreibt - autobiografische Elemente ein, und beweint einmal mehr den Niedergang seiner Stadt Havanna, deren Zerfall er bereits gemeinsam mit Florian Borchmeyer in dessen Film-Dokumentation Havanna - Die neue Kunst Ruinen zu bauen (Freitag 5/2007) beklagte.

Antonio José Ponte nimmt keine Rücksichten, weder persönliche noch politische, selbst körperliche Gebrechen nutzt er aus, wenn sie ihm bei der Wahrheitsfindung dienen. "Zunächst mit einer besonderen Form der Schieläugigkeit geschlagen, war Sartre am Ende seines Lebens erblindet", schreibt er, um die Parteinahme des französischen Schriftstellers und Philosophen für die kubanische Revolution ins Lächerliche zu ziehen, nachdem er zunächst, in nicht minder bösartigem Ton, in Zweifel gezogen hat, dass sich Jean-Paul Sartre nach seinen kurzen Havanna-Besuchen ein Urteil erlauben konnte über die Geschehnisse auf der Insel. Auch vor Ry Cooder, dem Erfinder des Buena Vista Social Club, und Wim Wenders, dem Regisseur des gleichnamigen Films, macht Pontes beißender Spott nicht halt, auch an sie geht der Vorwurf, die Realität nicht wahrzunehmen. Als Ponte den Film in Havanna sieht, präsentiert sich ihm eine "Stadt, die ich beim Verlassen des Kinos nicht wiederfand."

Ponte, zunächst Hydraulik-Ingenieur, später Professor für Literatur, der selbsternannte Ruinenwächter von Havanna, rechnet ab mit der Revolution, ihren Schönfärbern und allen, die sich ihr verschrieben und somit zum Verfall, und zwar nicht nur Havannas, beigetragen haben. "Man steht von dem Moment an vor einer Ruine, wenn die Schäden an einem Gebäude unwiderruflich sind. Wenn es nicht mehr das Verlangen nach Wiederaufbau weckt", schreibt Ponte, und meint damit auch das Gebäude namens Revolution. Seine Kritik an ihr setzt bereits nach der Invasion in der Schweinebucht an: "An die Stelle des Schlachtplans", so Ponte, "trat ein Organigramm. Das Land, vorher weit verzweigt und voller Erwartung, war zu einer Karriereleiter geschrumpft". Ironische Zuspitzungen und Spitzfindigkeiten - von Susanne Giersberg hervorragend ins Deutsche übertragen - sind seine Art, mit der Verzweiflung über die Lebenssituation der Kubaner und mit persönlichen Verletzungen umzugehen.

Ponte hat allen Grund zur Verzweiflung. Viele seiner Kollegen waren gegangen, doch er blieb, zumindest zunächst. Er erlebte, wie seine demenzkranke Großmutter vom viel gepriesenen Gesundheitssystem zu Tode gepflegt wurde, musste Bespitzelungen über sich ergehen lassen, wurde vom Kulturminister als lästiger Kerl bezeichnet und schließlich aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen, was einem Berufsverbot gleichkam. Er wurde zum "Gespenst", ja, zum vermeintlichen Spitzel des amerikanischen Geheimdienstes, zu dessen Mann in Havanna.

Kollegen wie José Manuel Prieto - den Ponte im Buch als "B." bezeichnet - belächelten ihn offenbar und bezichtigten ihn der Provinzialität, weil er blieb. Dies muss ihn noch schwerer getroffen haben als die Tiefschläge seitens des Regimes, denn warum sonst schlägt der Ruinenwächter gegen die Kollegen so gnadenlos zurück? Und warum vergisst er dabei sogar seinen so oft durchscheinenden, tiefgründigen Humor? B. etwa zeiht er der Gier nach Ruhm, Luxus und Geld, und seinem Werk spricht er einen Mangel an Fantasie ab. Das erinnert fast ein wenig an die harten Bandagen, mit denen sich die Kubaner auf beiden Seiten der Meerenge von Florida seit fast fünf Jahrzehnten bekämpfen.

Zwar bezichtigt sich der Ruinenwächter gleich auf der ersten Seite der Feigheit, doch Pontes Buch ist ebenso mutig wie schonungslos, nicht nur, weil er keine Scheu hat, auszuteilen. Er lässt auch zu, dass der Leser in sein Innerstes blickt und einen höchst empfindsamen, zutiefst enttäuschten, einsamen Menschen entdeckt, dem Sprachgewalt, Beobachtungsgabe und Fantasie sowie die Fähigkeit, die Dinge aphoristisch auf den Punkt zu bringen, dabei helfen, sich von seinen Dämonen zu befreien.

Wendy Guerra, Jahrgang 1970, TV-Moderatorin, Schauspielerin und Lyrikerin, zählt zu einer Generation, die zwar in die Revolution hineingeboren wurde, jedoch als junge Erwachsene nicht wie Padura oder Ponte noch politische Aufbruchsstimmung verspürt hatte, sondern den bereits beginnenden Verfall. Dass es einmal große politische Hoffnungen gab und dass diese enttäuscht wurden, erfährt Nieve Guerra, ihre tagebuchschreibende Protagonistin, nur aus zweiter Hand, von ihrer Mutter.

Alle gehen fort ist im "Tagebuch der Kindheit" die anrührende Geschichte eines vom Vater misshandelten Mädchens, das von der sozialistischen Gesellschaft im Stich gelassen wurde, weil der Vater über Seilschaften in der Partei verfügte, die ihn schützten. Überzeugend ist dabei vor allem Guerras Sprache, die, ohne ins Simple zu verfallen, der eines Kindes nachempfunden ist und mit einfachen Worten dessen Qualen so eindrücklich schildert, dass es den Leser schaudern lässt.

Im zweiten Teil, dem "Tagebuch der Jugend", schildert Guerra den Kampf der heranwachsenden Nieve um die Liebe eines älteren Mannes, der sie kaum besser behandelt als der Vater, ihr aber vorübergehend ein Entkommen aus der Mangelwirtschaft ermöglicht. Und ihr vorgaukelt, er werde sie demnächst mitnehmen nach Paris.

Während Padura seinem Protagonisten noch den Rückzug in den Kreis der Freunde lässt, und Ponte sich lange dagegen wehrt zu gehen, gibt es für Guerras Nieve nur einen Weg ins Leben: Der Insel den Rücken zu kehren. Zu bleiben bedeutet, "für immer zur Unbeweglichkeit verdammt" zu sein. Alle gehen fort ist ein pessimistisches Buch, das mit dem weit verbreiteten Vorurteil aufräumt, unter karibischer Sonne sei das Leben per se leichter.

Leonardo Padura Der Nebel von gestern. Aus dem Spanischen von Hans-Joachim Hartstein. Unionsverlag Zürich 2008, 366 S., 19,90 EUR

Antonio José Ponte Der Ruinenwächter von Havanna. Aus dem Spanischen von Susanne Giersberg. Verlag Antje Kunstmann München 2008, 240 S., 19,90 EUR

Wendy Guerra Alle gehen fort. Aus dem Spanischen von Peter Tremp. Lateinamerika Verlag, Solothurn 2008, 291 S., 22 EUR

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