Wenn er den Nobelpreis verleihen dürfte, ginge er an Mo Yan, hat der japanische Literaturnobelpreisträger von 1994, Kenzaburō Ōe, einmal geäußert, und wen wundert’s, dass sein Zitat in den Klappentexten aller drei zur Frankfurter Buchmesse erschienenen Romane des chinesischen Schriftstellers landete. Entsprechend hoch liegt die Messlatte für den 1956 in der ostchinesischen Provinz Shandong geborenen Bauernsohn Guǎn Móyè, der unter dem Pseudonym Mo Yan schreibt, was zu Deutsch so viel wie der Sprachlose bedeutet. Um es gleich vorweg zu sagen: Mo Yan erfüllt die Erwartungen.
Wer die Romane von Gabriel García Márquez goutiert, 1982 von der schwedischen Akademie geehrt, wird an Mo Yan seine Freude haben, denn auch dieser frönt einem magischen Realismus. Sein Aracataca heißt Gaomi und ist Schauplatz aller seiner Romane, in denen er den Leser in verschiedene Epochen seines Geburtsortes führt.
Die täglichen Gewohnheiten der Menschen, ihre Traditionen, ihr Glauben und Aberglauben, ihre Ängste und Freuden, ihr Kampf ums Überleben und ihr oftmals rüder Umgang miteinander und der jeweiligen Obrigkeit mit ihnen – das ist das Material, aus dem der detailversessene Beobachter Mo Yan seine Geschichten modelliert.
Er schildert das Leben aus dem Blickwinkel der bäuerlichen Bevölkerung Gaomis, wobei er sein Augenmerk ganz besonders auf die vielen kleinen und großen Ungerechtigkeiten legt, unter denen die einfachen Menschen zu leiden haben.
Mythen, Legenden, Aberglauben
Mo Yans Romane leisten alle eine literarische Auseinandersetzung mit Geschichte und Politik, sein Thema sind aber immer auch menschliche Schwächen wie Sadismus, Egoismus, Habgier, Opportunismus oder Mitläufertum und deren Folgen für das Zusammenleben. Meist werden sie belohnt in seinen Romanen, während Mut, Treue oder Aufrichtigkeit den Kürzeren ziehen.
Wie García Márquez geht Mo Yan von der Realität aus, um dann ins Fantastische abzuheben, wobei er sich dafür gewöhnlich Mythen, Legenden und Aberglauben zu Nutze macht. Sein Vokabular hat er den Menschen Gaomis abgeschaut, Konzessionen an Feingeister macht er dabei keine: Es wird munter gesoffen, gefurzt, gepisst oder gefickt. Seine zahlreichen plastischen Bilder und Vergleiche entstammen meist der Natur, und er liebt es, Volksweisheiten und Sprichwörter sowie Textzeilen und Strophen aus Opern einzuflechten, die in China, wie der Schriftsteller selbst im Nachwort zu Die Sandelholzstrafe schreibt, zur volkstümlichen Musik zählen und sehr beliebt sind.
Der Roman "Die Sandelholzstrafe", im Original 2001 erschienen, ist als Oper in drei Akten konzipiert. In den Kapiteln des ersten und letzten Teils kommen die fünf Hauptfiguren in der Ich-Form zu Wort – so, als präsentierten sie eine Arie in Prosa.
Im zweiten Teil erlaubt ein Erzähler dem Leser den Blick in die Vergangenheit und erläutert die Hintergründe, die zu dem sich abzeichnenden Drama führten. Die Form korrespondiert mit dem Inhalt, als es sich bei Sun Bing, dem tragischen Helden des Romans, um einen Schauspieler handelt, der mit Katzenopern über Land zu ziehen pflegte, bis er zu einem lokalen Führer der Boxeraufstände des Jahres 1900 wird, die sich gegen den Bau der Eisenbahnstrecke durch die Deutschen sowie generell gegen den wachsenden Einfluss ausländischer Mächte auf das China der Qing-Dynastie wehren.
Fünf Tage Folter
Sun Bings Leute werden durch deutsche Truppen aufgerieben, er selbst wird vom Präfekten, dem Liebhaber seiner Tochter Meiniang, in eine Falle gelockt und festgenommen. Sun Bing droht der Tod durch Folter. Niemand geringerer als der oberste Henker des Landes wird an ihm die Sandelholzstrafe vollziehen.
Der Henker ist der Vater von Sun Bings Schwiegersohn und letzterer wird dem Henker assistieren. Sun Bings fünftägige Folter wird, Ironie des Schicksals, auf einer öffentlichen Bühne inszeniert.
Der Roman führt mit bitterem Sarkasmus den korrupten, unfähigen Beamtenapparat der selbstherrlichen Kaiserinwitwe Cixi vor, der unter dem Mäntelchen der Ehrbarkeit ein Luxus- und Lotterleben führte und dessen Willkür die Bevölkerung auf Gedeih und Verderb ausgeliefert war.
Über viele Seiten schildert Mo Yan die raffinierten Foltermethoden, mit denen Tausende von Menschen aus den nichtigsten Gründen zu Tode gequält wurden. Die minutiösen Beschreibungen der grausamen Hinrichtungen, die bis ins Mark erschüttern, lassen "Die Sandelholzstrafe" zu einem Plädoyer gegen jedwede Folter geraten.
Überhaupt beweist sich Mo Yan in allen seinen Romanen als Moralist, als er seine Protagonisten immer wieder vor die Wahl stellt, sich für familiäre und freundschaftliche Bindungen und Menschlichkeit auf der einen oder für die Loyalität gegenüber der Obrigkeit, für die Karriere oder für das Streben nach Reichtum auf der anderen Seite zu entscheiden.
Visionäre Knoblauchrevolte
Das sich Auflehnen gegen die Obrigkeit ist auch Thema des 1988 im Original, 1997 erstmals in deutscher Übersetzung und jetzt neu verlegten Romans "Die Knoblauchrevolte".Diesmal wehrt sich die Bauernschaft von Gaomi gegen die korrupte und arrogante Staatsbürokratie des Jahres 1987, die sich nach Mo Yans Darstellungen nicht wesentlich von ihrer kaiserlichen Vorläuferin unterschied. Knoblauch anbauen, so lautete die Parole der Bürokraten für die Bauern, doch als diese ihre Ernte dann dem Staat als einzigem Abnehmer verkaufen wollen, hat dieser die Preise bereits unter Produktionsniveau sinken lassen. Der Unmut der Landbewohner entlädt sich spontan, als sie erfahren, dass sie sogar auf dem Rest ihrer Ernte sitzenbleiben werden. Sie stürmen den Sitz des Präfekten und legen Feuer in dessen Büro. Ein Jahr nach Erscheinen des Buches in China kam es im Übrigen zu den Protesten auf dem Platz des Himmlischen Friedens – auch da ging es unter anderem um die Preispolitik des Staates. Als habe Mo Yan die Ereignisse vorausgeahnt…
In "Die Knoblauchrevolte" geht es dem Autor ebenfalls um ein menschenverachtendes Rechtssystem, um ungerechte Urteile gegen die Knoblauch-Rebellen und um Gefängnisse und Arbeitslager, in denen die nackte Gewalt regiert.
Der Erzähler begleitet die an der Revolte beteiligten Bauern Gao Ma und Gao Yang sowie die Bäuerin Tante Vier vom Tag ihrer Verhaftung an und weiht den Leser mit Rückblicken in die Vorkommnisse vor und während der Revolte ein, so auch in die anrührende Liebesgeschichte zwischen Gao Ma und Tante Viers Tochter Jinjü.
Als hätte es die chinesische Revolution nie gegeben, beschließen Tante Vier, ihr gefühlloser Ehemann und ihre beiden brutalen Söhne, Jinjü mit einem Mann zu verheiraten, welcher im Tausch seine Schwester dem behinderten Sohn der Familie Vier zur Frau geben will. Nicht einmal die Behörden wissen Gao Ma und Jinjü auf ihrer Seite, da für deren Vertreter nicht das Gesetz, sondern der eigene Vorteil zählt. Als Tante Vier schließlich ein Einsehen hat, ist es zu spät.
"Der Überdruss", 2006 im Original erschienen, ist der ambitionierteste der drei Romane, erzählt er doch die Geschichte Chinas von 1950 bis zur Jahrtausendwende. Der Großgrundbesitzer Ximen Nao wird nach Maos Machtübernahme vom entfesselten Mob erschlagen, doch der Unterweltfürst Yama erlaubt ihm, zu den Seinen zurückzukehren, als Esel, Stier, Schwein, Hund, Affe und zu guter Letzt, zur Jahrtausendwende, erneut als Mensch, als sein eigener Urenkel.
So darf Ximen Nao aus der Tier-Perspektive beobachten, wie seine Hauptfrau als ehemalige Großgrundbesitzerin trotz ihrer schmerzenden, eingebundenen Füße zu Schwerstarbeit gezwungen wird, sein Sohn Jinlong die Partei über alles setzt, und sein ehemaliger Knecht allen Anfeindungen zum Trotz über Jahrzehnte daran festhält, seine kleine Scholle privat zu bewirtschaften.
In den verschiedenen Reinkarnationen erlebt er die Irrungen und Wirrungen chinesischer Wirtschaftspolitik und deren – allesamt verheerende – Auswirkungen auf den Alltag. Die Kollektivierung der Landwirtschaft treibt Unfrieden in Ximens Familie, die Hungersnot als Folge des Großen Sprungs nach vorn, der China zum Industriestaat machen sollte, bringt sie fast ins Grab, die Kulturrevolution weckt das Böse in Ximens Sohn Jinlong und die Liberalisierung nach Maos Tod verhilft dem korrupten Jinlong zu Wohlstand. Der damit einhergehende Verfall der Werte treibt Ximens Enkeltochter dann erst einmal ins Elend.
Auch dieser Roman trägt existenzialistische Züge, lässt er doch keinen Zweifel daran, dass jeder Mensch, Verhältnisse hin oder her, immer eine Wahl hat. Meist wählt er jedoch den falschen Weg. Humanistische Werte bleiben vor allem der Welt der Tiere vorbehalten, in der sich Ximen Nao in seinen Reinkarnationen bewegt.
Mo Yan gelingt es, eine vernichtende Kritik an fünfzig Jahren Kommunismus in eine brillant erzählte, spannende Familiensaga zu kleiden, in der die Politik scheinbar gar keine Rolle spielt und doch omnipräsent ist.
Zumindest den China-Laien verwundert es, dass Der Überdruss in China erscheinen durfte und dort obendrein mit dem wichtigsten Literaturpreis geehrt wurde. Im Kuba der Castros etwa wäre ein solches Buch in der Schublade verschimmelt. Scheint’s, dass Chinas derzeit Herrschende nichts dagegen haben, wenn die Literatur mit ihren Vorgängern abrechnet.
Mo Yan. Roman. Aus dem Chinesischen von Karin Betz. Insel, Frankfurt am Main 2009, 647 S., 29,80 Die Knoblauchrevolte Mo Yan. Roman. Aus dem Chinesischen von Andreas Donath. Unionsverlag, Zürich 2009, 384 S., 12,90 Der Überdruss Mo Yan. Roman. Aus dem Chinesischen von Martina Hasse. Horlemann. Unkel 2009, 812 S., 29,90 Die Sandelholzstrafe
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