Im Schatten der Macht

Spekulationen In seinem neuen Werk "Die Wörter und die Toten" versucht sich der ins Exil gezwungene kubanische Autor Amir Valle an einem Diktatorenroman

Er ist tot. Für Kubas Streitkräfte ist Kasernenpflicht angeordnet, und so darf Facundo Ramírez, Leibwächter des Comandante en jefe seit den Tagen der Sierra Maestra, sein Büro nicht verlassen. Allein gelassen mit der schriftlichen Todesnachricht, ein paar Fotos des Verstorbenen und einer Thermoskanne des von seiner Frau gekochten Kaffees, den auch der Comandante so gern geschlürft hat, starrt er einen ganzen Tag lang auf den Platz der Revolution. Zweimal wird er dabei von Besuchern aus seinen Gedanken gerissen, von Raúl, dem jüngeren der beiden Castro-Brüder, und von einem Kameraden aus der Leibgarde des dahingeschiedenen Staatschefs. Und in der letzten Zeile fällt ein Schuss - soweit die Rahmenhandlung von Die Wörter und die Toten, des Romans des im Berliner Exil lebenden kubanischen Journalisten und Krimiautors Amir Valle.

Während Facundo aus dem Fenster schaut, denkt er zurück an die mehr als 50 Jahre, die er mit seinem Leben für die Sicherheit Castros eingestanden ist und diesen vor so manchem Attentat bewahrte. Er erinnert sich an private Momente, die er mit dem ihm Anbefohlenen geteilt hat, an Gespräche, deren Zeuge er qua Amt oder zufällig wurde, sowie an große und kleine politische Ereignisse der vergangenen fünf Jahrzehnte. Die Menschen, die da vor Facundos geistigem Auge Revue passieren, sind dem mit der kubanischen Politik vertrauten Leser wohlbekannt: Castros Gefährten im Guerilla-Kampf gegen die Batista-Diktatur wie Che Guevara, Juan Almeida oder Ex-Staatssicherheitschef Ramiro Valdés, der amtierende Kulturminister Abel Prieto, der heutige Außenminister Felipe Pérez Roque oder sein Amtsvorgänger Roberto Robaina, um nur einige zu nennen.

Die Begebenheiten, um die Facundos Gedanken kreisen, sind in Geschichtsbüchern nachzulesen, so der Flugzeugabsturz, den der charismatische Revolutionsheld Camilo Cienfuegos nicht überlebte, die Hinrichtung des gefeierten Helden des Angola-Krieges, General Arnaldo Ochoa, oder die Amtsenthebung des beliebten Außenministers Robaina. Diesen Fällen ist gemein, dass sie nie lückenlos aufgeklärt wurden, und niemand weiß, was sich hinter den Kulissen der Macht zugetragen hat. Und folglich ranken sich in der Bevölkerung zahlreiche Gerüchte darum, denen immer die gleiche Vermutung zugrunde liegt - dass Castro sich der Männer entledigt haben könnte, weil sie seine Macht hätten gefährden können. Doch für diese Gerüchte fehlt naturgemäß jeder Beweis. Valle hat nun eben diese Gerüchte und Spekulationen, Kubakennern größtenteils auch nicht unbekannt, in fiktiven Gesprächen Castros mit seinen realen Vertrauten, die dem Bodyguard angesichts der Todesnachricht wieder in den Sinn kommen, zur Wahrheit seines Romans erhoben, auch wenn sie, wie er in einem Vorspann ausdrücklich erklärt, vielleicht historischer Wahrheit entbehren.

Amir Valle widmet sein Buch Mario Vargas Llosa, der ihn mit seinem Roman Das Fest des Ziegenbocks über die Diktatur des 1961 ermordeten, rechten Generals Rafael Leonidas Trujillo gelehrt habe, dass man "über diese Dinge" auch literarisch schreiben könne. Einen kleinen, aber entscheidenden Unterschied hat Valle dabei allerdings übersehen: Der Roman seines Vorbildes stützt sich nicht auf Gerüchte, sondern auf systematisch ausgewertete historische Quellen. Kuba-Interessierte wird dennoch die Neugier durch Valles Buch treiben, möchte man doch zu gern wissen, welche Erklärungsvariante er etwa zum Fall Ochoa beizusteuern hat. So mancher Castro-Gegner wird sich bei der Lektüre die Hände reiben.

Langeweile kommt nicht auf beim Lesen, denn Valle versteht sich aufs Schreiben. Die Dialoge gelingen ihm im spanischen Original so trefflich, dass man manchmal glaubt, dem Máximo Líder leibhaftig gegenüber zu sitzen. Zumal der Journalist auch ein ausgezeichneter Beobachter ist und die Personen wie in einer guten Reportage bis in die kleinste Bewegung sehr plastisch zu beschreiben weiß. Die Übersetzung wird dem - zweifellos extrem schwierigen - Text leider oft nicht gerecht, sie trifft den umgangssprachlichen Ton nicht, bleibt zu steif, und weist gelegentlich Fehler auf.

Die Wörter und die Toten erhebt literarischen Anspruch, und so muss auch die Frage erlaubt sein, inwieweit es dem Autor gelingt, über eine gut geschriebene Gerüchte-Sammlung für "Kubanologen" hinauszukommen. Valle geht es darum, Interaktionsstrukturen der so genannten politischen Elite in einem System nachzuspüren, in dem sämtliche Fäden der Macht in einer Hand zusammenlaufen. Dies ist ihm zweifelsohne im Falle Kubas gelungen, doch da er sich streng an diesem Modell "abarbeitet", verdammt er sich selbst zur Phantasielosigkeit, und das Buch bleibt weitgehend eine Kuba-Reportage, die nicht belegbar ist.

Der Autor beraubte sich selbst der Möglichkeit, einen Diktatorenroman zu schreiben wie einst sein großer Landsmann Alejo Carpentier mit Die Methode der Macht, der auch über die Inselgrenzen hinaus seine Gültigkeit behält. Valles Buch wird schnell überholt sein, wenn es nach dem Tode Fidels gelingt, die Geschichte der kubanischen Revolution genauer zu beleuchten und offene Fragen zu klären. Carpentier wird man auch dann noch etwas abzugewinnen wissen.

Leibwächter Facundo, die einzige fiktive Figur des Romans, hat sich dafür entschieden, seinem Dienstherrn die Treue zu halten, nachdem dessen Leute ihn und seinen Vater vor dem Erschießen durch einen Büttel der Batista-Diktatur bewahrten, und nichts kann diese Dankbarkeit und Treue erschüttern, zumal sie erwidert zu werden scheint, denn der Bodyguard und seine Familie leben gut im Schatten der Macht. Das überraschende Ende des Romans - das hier nicht vorweg genommen werden soll - beweist, dass Valle durchaus in der Lage ist, von Realem und Gehörtem abzuweichen und die Phantasie spielen zu lassen. Valle wurde 2005 nach einer Lesereise die Rückkehr nach Kuba verweigert. Womöglich waren es Zorn und mangelnde Distanz, die ihn daran hinderten, sich zum Wohle des Romans ein wenig von Kuba und Castro zu entfernen.

Amir Valle: Die Wörter und die Toten. Nachruf auf eine Revolution. Roman. Aus dem Spanischen von Ursula Bachhausen. Edition Köln, Köln 2007, 374 S., 18,90 EUR


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