Katalanische Literatur kreist nicht notwendig um die eigene Region oder um die Aufarbeitung des Spanischen Bürgerkriegs und der Franco-Diktatur, sondern wendet sich auch Themen von universellem Interesse zu - dafür sind die beiden Romane von Albert Sánchez Piñol ein Beleg. Bereits Sánchez Piñols Debüt, Im Rausch der Stille, trug ihm 2002 nicht nur in Katalonien, sondern in ganz Spanien hohe Auflagen und einen Literaturpreis ein und wurde in etliche Sprachen übersetzt. Sein jetzt auch auf Deutsch vorliegendes, zweites Werk, Pandora im Kongo, wurde von der angesehenen spanischen Tageszeitung El País als "Roman des Jahres" bezeichnet. Die Kritik verglich den 1965 geborenen Schriftsteller aus Barcelona gar mit Jules Verne und Joseph Conrad. Nicht ganz zu Unrecht, denn wie sie schreibt der Katalane über abenteuerliche Reisen, wie Conrad setzt er sich mit dem Kolonialismus auseinander, und wie Verne widmet er sich der Science Fiction.
Sánchez Piñols großes Thema ist die Eroberung der Erde durch fremde Wesen. In Im Rausch der Stille kommen die Citauca - Acuatic, wenn man ihren Namen von hinten liest -, eine Mischung aus Mensch und Frosch, aus dem Wasser. In Pandora im Kongo drängen die Tektoner - größer als Menschen, haarlos und kalkweiß - aus dem Erdinneren an die Oberfläche. Die Menschen reagieren, wie sie auf Fremde oft reagieren: Sie haben Angst und begegnen ihnen mit Gewalt. Bemühen um Verständnis wird nicht erwogen, auch nicht von Seiten der "Ungeheuer". Diese handeln, wie Kolonisatoren gewöhnlich handeln: Sie schicken immer mehr Soldaten. Keine Seite ist gut, keine Seite ist böse, nur jede hat ihre eigene Sicht der Dinge - das ist eine der Botschaften, die Sánchez Piñol vermittelt.
Der Teufelskreis der Gewalt und des Hasses kann durch die Liebe durchbrochen werden, durch die körperliche zunächst, und diese führt dann zur Suche nach Verstehen und schließlich zu der Erkenntnis, dass man so verschieden voneinander gar nicht ist. "Wir ähneln denen, die wir hassen, mehr als wir denken", stellt denn auch der Ich-Erzähler von Im Rausch der Stille gleich eingangs fest, bevor er beginnt, von seinem großen Abenteuer mit den Froschmenschen zu berichten.
Der junge - namenlose - Ire hat am Befreiungskampf seiner Heimat teilgenommen. Nach der Unabhängigkeit Irlands von Großbritannien 1922 will er aus Enttäuschung über die anhaltende Gewalt in der Republik dieser den Rücken kehren und in eine Welt ohne Menschen flüchten. Er nimmt den Posten eines Wetterbeobachters auf einer kleinen, abgelegenen Insel im Südatlantik an. Sein einziger Mitbewohner ist Batís Caffó, der Leuchtturmwärter, der ihn jedoch gleich bei der ersten Begegnung schroff zurückweist. Bereits in der ersten Nacht auf der - ebenfalls namenlosen - Insel kommen die Ungeheuer aus dem Wasser und versuchen, in die armselige Wetterstation einzudringen. Nur dank der Gewehre, die ihm der Kapitän des Schiffes, das den Iren absetzte, gegen seinen Willen hinterließ, kann dieser den Ansturm abwehren. Niemand entkommt der Gewalt - so ein weiterer Topos, mit dem sich der Autor auseinandersetzt.
Zwar kann der Ire Batís überreden, ihn in dem zur Festung ausgebauten Leuchtturm aufzunehmen, doch Freunde werden die beiden Männer nicht, lediglich der äußere Feind lässt sie zusammenhalten. Batís Caffó hält sich eine Citauca, die ihm den Haushalt führt, mit der er schläft und die er grausam misshandelt. Aneris, von hinten gelesen Sirena, singt, wenn sich ihre Artgenossen der Insel nähern. Auch der Ire erliegt schließlich dem Wunsch, sie zu besitzen, und schließlich verliebt er sich in sie.
Die Liebesgeschichte des ungleichen Paares, aber vor allem der tägliche, blutige Überlebenskampf der beiden kaum weniger ungleichen Männer bleiben bis zur letzten Zeile spannend, wie es sich für einen Abenteuerroman gehört. Wer das Buch über die erfundene Insel lieber als eine Parabel lesen möchte, kommt ebenfalls auf seine Kosten. Als Anthropologe kennt der Autor sich aus im Umgang mit fremden Kulturen, er weiß, wie vorurteilsbehaftet viele Menschen ihnen begegnen und reflektiert dies in seinen beiden Büchern.
In seinem neuen Roman führt Piñol die Leser in den Kongo, wo er selbst eine Weile gelebt hat, für eine Forschungsarbeit über das Pygmäen-Volk der Mbuti. Ich-Erzähler von Pandora im Kongo ist der Engländer Tommy Thomson, der sich als junger Mann, während des Ersten Weltkrieges, als Schreiber von Groschenromanen seinen Lebensunterhalt verdiente. Ein Anwalt beauftragte ihn damals damit, einen Roman über das Leben des wegen Mordes an seinen beiden Chefs angeklagten Marcus Garvey zu schreiben. Der Roman sollte dessen Unschuld beweisen. Thomson besuchte Garvey im Gefängnis und dieser erzählte ihm seine Geschichte, die Tommy niederschrieb. Garvey wurde freigesprochen.
Nach sechzig Jahren macht sich Thomson nun daran, den Roman und dessen Entstehen noch einmal aufzuschreiben und kommt dabei zu einer anderen Sicht der Dinge. Pandora im Kongo ist also nicht nur der Roman über das Schreiben eines solchen, sondern auch ein Krimi, oder besser eine Persiflage darauf, weil er die Möglichkeit der Wahrheitsfindung in Frage stellt.
Marcus Garvey war als Gehilfe der Brüder William und Richard Craver in den Kongo aufgebrochen, um dort nach Gold zu graben. Die Cravers entsprechen dem Klischee des Kolonialherren: Sie sind rücksichtlose, brutale Ausbeuter und Rassisten. Ihre Gier lässt sie die Goldmine so tief in die Erde treiben, bis sie schließlich auf die Gänge der Tektoner stoßen und damit die Büchse der Pandora öffnen und den Innerirdischen den Weg an die Oberfläche erleichtern. Wieder kommt es zu Gewaltexzessen, wieder kommt es zur sexuellen Ausbeutung. William macht sich Amgam - Magma, von hinten gelesen -, zur Sklavin, bis Garvey sie befreit. William und Richard werden ermordet, und zwischen Marcus und Amgam wächst die Liebe, die sie schließlich opfern, um die beiden Welten wieder zu trennen, weil sie eine Verständigung nicht für möglich halten.
Sánchez Piñol wollte nach eigenen Worten auch eine Parodie auf den Liebesroman schreiben und hat Marcus und Amgam nach "dem Vorbild der großen Liebenden der Literatur" konstruiert. Auch Tommy verliebt sich in Amgam, als er seinen Roman zum ersten Mal schreibt, und diese Liebe treibt ihn ein Leben lang um, obwohl er die Tektonerin nie gesehen hat, ja nicht einmal weiß, ob sie eine Erfindung Garveys war.
Pandora im Kongo ist ein perfekt konstruierter Roman, der sich überdies über das eigene Genre lustig macht, indem er zeigt, wie dieses zur Manipulation genutzt werden kann, wenn nur die Konstruktion stimmt. Albert Sánchez Piñol versteht es zudem meisterhaft, die Sprache den jeweiligen Notwendigkeiten anzupassen: Mal kommt er poetisch daher, mal aphoristisch knapp, lebendig in den Dialogen und einfallsreich in seinen Metaphern und Vergleichen. Der Autor arbeitet an einem dritten Band seiner als Trilogie angelegten Romanreihe über Invasionsversuche durch Ungeheuer. Nach der Bedrohung aus dem Wasser und dem Erdinnern steht die Bedrohung aus der Luft bevor.
Albert Sánchez Piñol: Im Rausch der Stille. Roman. Aus dem Katalanischen von Angelika Maass. Fischer Taschenbuch, Frankfurt am Main 2006 (Erstausgabe 2005), 252 S., 8,95 EUR
Albert Sánchez Piñol: Pandora im Kongo. Roman. Aus dem Katalanischen von Charlotte Frei. S. Fischer, Frankfurt am Main 2007, 478 S., 19,90 EUR
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