Tödlicher Radunfall: „Die Klimaaktivisten machen sich zu nützlichen Idioten“
Berlin Eine Radfahrerin ist tot. Die Klimaaktivist:innen der „letzten Generation“ stehen im Fokus von Beschuldigungen. Aber warum kam es eigentlich zu dem Unfall? Ein Besuch bei der Mahnwache in Berlin
Wie viele noch? Ein weiß lackiertes Rad erinnert nun auch an der Bundesallee in Berlin an eine tödlich verunglückte Radfahrerin
Foto: Stefan Zeitz/Imago Images
Trauer und Wut sind an diesem ersten Novembersonntag an der Bundesallee in Berlin zu spüren. Etwa 400 Menschen sind gekommen, fast alle mit Fahrrad, um der Frau zu gedenken, die genau an dieser Stelle, zwischen Nachodstraße und Spichernstraße, von einem Betonmischer überrollt wurde und drei Tage später starb. Was von ihrem Rad übrig blieb, liegt wie ein Mahnmal auf der Straße. Daneben ein komplett weiß lackiertes Rad, ein „Geisterrad“, das tödlich verunglückter Radfahrer am Unfallort gedenken soll. Allein in diesem Jahr wurden in Berlin schon acht Geisterräder aufgestellt. Acht zu viel.
„Darum sind wir heute hier. Um daran zu erinnern und zu mahnen!“, schallt es aus den Boxen. Geklatsche, Geklingel. Es ist die St
ist die Stimme von Paul Jäde, Vorstandsmitglied von Changing Cities, einer Organisation, die sich seit Jahren für den Ausbau städtischer Radwege starkmacht. Die von Jäde dann ausgerufene Gedenkminute steht exemplarisch für die momentanen Machtverhältnisse auf den Straßen großer Städte. Immer wieder sind Sirenen und hupende Autos zu hören. Als ob dieser Lärm nicht schon genug für eine Gedenkminute wäre, ruft noch ein aufgebrachter Autofahrer in die Stille hinein: „Geht mal nach Hause!“Tatsächlich wird schon seit zehn Jahren an der Kreuzung Bundesallee/Nachodstraße, an der die Frau tödlich verunglückte, herumgeplant, um sie sicherer zu machen. Fertig ist der Umbau immer noch nicht. Das, was bereits umgesetzt wurde, entspricht nicht annähernd den Vorgaben des Berliner Mobilitätsgesetzes – ein im Juni 2018 durch das Abgeordnetenhaus beschlossenes Regelwerk, das unter anderem vorschreibt, Fahrräder und öffentliche Verkehrsmittel in der Verkehrsplanung vorrangig zu behandeln. Zudem wurden, so Paul Jäde, ganz konkrete Vorschläge der Zivilgesellschaft zur sicheren Umgestaltung der Kreuzung einfach ignoriert.„Der Berliner Straßenverkehr ist kein abstraktes Ungeheuer, welches unzähmbar und auf ewig grausam ist“, erklärt Jäde. Dabei scheint, wenn man ihm, den anderen Teilnehmern der Mahnwache oder Experten zuhört, eher das Gegenteil der Fall. Gute Absichten, sinnvolle Gesetze und ein rot-grün-roter Senat, der die Problematik für wichtig erachtet – allesamt vorhanden. Trotzdem sterben in Berlin Radfahrende.Der Fehler vieler MedienDie Realität an der Bundesallee: Radwege von 1,25 Meter Breite liegen neben einer vierspurigen Straße, die Autos jeweils drei Meter pro Spur gewährt. Vermutlich sind auch deshalb so viele Menschen zur Mahnwache gekommen, weil das Medienecho, das dieser Unfall verursacht hat, so laut gewesen ist. Um den Unfall selbst ging es dabei aber kaum, also darum, wie er verursacht wurde und wie er hätte verhindert werden können. Es ging um die Straßenblockaden der Klimaaktivisten vom „Aufstand der Letzten Generation“. Diese hätten die Rettung der verunglückten Radfahrerin verzögert, ja, wären sogar für den Tod der Frau verantwortlich, hieß es vielfach. Die Attacken kamen besonders von jenen, denen die Klimaaktivisten sowieso ein Dorn im Auge sind. Hochrangige Politikerinnen bis zu Grünen-Chefin Ricarda Lang übernahmen die falschen Anschuldigungen und zogen daraus ihre Schlüsse. Nach Einschätzung der Notärztin vor Ort hatte allerdings der Stau, den ein Polizeieinsatz in Folge einer Protestaktion der „Letzten Generation“ auslöste, keine Folgen für die Rettung der verunglückten Radfahrerin.„Die Klimaaktivisten machen sich zu nützlichen Idioten für die Berliner Politik, um über die Ursachen des Unfalls nicht sprechen zu müssen“, findet Christian, IT-Administrator und Teilnehmer der Mahnwache. Seine vierjährige Tochter Noëlle sitzt derweil im Kindersitz auf seinem Fahrrad. „Mich hat es sehr erschreckt und geärgert, wie das eigentliche Thema, wie unsicher es hier nämlich ist, von Medien und der Politik in den Hintergrund gerückt wurde.“Christian fährt selbst jeden Morgen mit dem Rad über die Bundesallee zur Arbeit – mit gelber Warnweste und Helm. So auch an jenem, als es zu dem tödlichen Unfall kam. „Ich muss so vier, fünf Minuten später da gewesen sein, da war die Stelle von der Polizei schon abgesperrt. Aber ich habe gesehen, wie die Frau unter dem Betonmischer lag und wie der Fahrer auf der Stoßstange saß. Vor ihm eine unheimliche Schleifspur. Dann hab ich schnell wieder weggeschaut und bin weitergefahren. Das war einfach zu verstörend.“ Auch er sei 44 Jahre alt – genauso alt wie die verunglückte Frau. „Da hupen schon wieder Autos“, sagt seine Tochter.Christian erzählt, dass er sich nach dem Unfall als Radfahrer noch unsicherer fühle – besonders hier auf der Bundesallee. Er zeigt zu einer großen Baustelle kurz vor der besagten Kreuzung. „Man wird hier wegen dieser riesigen Baustelle vom Fahrradweg in den Autoverkehr gejagt. Mich wundert es, ehrlich gesagt, nicht, warum die Frau nach der Baustelle dann auf der Straße weitergefahren ist, anstatt wieder zurück auf den Radweg zu fahren.“ Zumal der Gehweg oft von Auftragsnehmern einer Bank zugeparkt sei, die hier ihre Filiale habe. Schon seit eineinhalb Jahren würde es die Baustelle hier geben, sagt Christian. „Das ist mir alles unbegreiflich.“Sie hätte nicht sterben müssenDabei sind die Forderungen, die der Fahrradclub ADFC und die Organisation Changing Cities auch hier auf der Mahnwache stellen, glasklar: breitere Fahrradwege, sichere Kreuzungen, weniger Autos und Tempo 30 in der Stadt, mehr Kontrollen. Diese Forderungen müssten auch vom Berliner Mobilitätsgesetz berücksichtigt werden und münden in der Vision Zero, einer Sicherheitsstrategie mit dem Ziel, dass im Straßenverkehr niemand schwer verletzt oder gar getötet wird. Um diesem Ziel näherzukommen, braucht es ein konsequentes Verwaltungshandeln vonseiten des Verkehrsministeriums. „Herr Wissing, machen Sie endlich was!“, ruft am Ende der Kundgebung Susanne Grittner, stellvertretende Landesvorsitzende des ADFC Berlin, in Richtung des FDP-geführten Verkehrsministeriums von Volker Wissing. Bis dahin führte im Anschluss an die Mahnwache ein Fahrradkorso.Grittner arbeitet schon seit 1997 ehrenamtlich für den ADFC. „Immer wenn ein Fahrradfahrer durch einen Lkw tödlich verunglückt, fahren wir zum Verkehrsministerium“, sagt sie nach der Kundgebung. Seit 2011 fordert der ADFC Berlin Abbiegeassistenten inklusive automatischer Notbremsung, seit etwa 2020 Assistenten mit Kollisionserkennung und Notstopp-System, das gerade mal 1.500 Euro kosten würde. Verpflichtend sei dies erst seit Juli 2022 – allerdings nur für neu zugelassene Fahrzeugtypen. Susanne Grittner glaubt: Eine solche Technik hätte die Kollision zwischen dem Betonmischer und der Radfahrerin vermeiden oder zumindest das Überrollen verhindern können. „Die Technik ist da, deutsche Hersteller bieten sie an. Ich möchte einfach nicht, dass die Vision Zero eine Vision bleibt.“Dann, noch während der Abschlusskundgebung, fällt plötzlich ein vorbeifahrender Radfahrer zu Boden. Es ist nicht zu erkennen, warum er gestürzt ist. Erschrocken starrt er hoch, zu den Teilnehmenden der Kundgebung, die den Fahrradweg frei gehalten haben. Ihm, dem Gestürzten, ist nichts Schlimmes passiert. Er steht auf, zieht sein Hosenbein nach unten, fährt wieder weiter. Aus der Ferne sind Sirenen zu hören. Und hupende Autos.