Hochverehrtes Lesepublikum! Für diesen Text hatte ich ursprünglich einen Plan: Gleich zwei Mal läuft in Berlin zurzeit der Frankenstein-Stoff auf der Bühne. Im Deutschen Theater spielen drei Schauspieler:innen in wechselnden Rollen Mary Shelleys Roman Frankenstein und in der 3. Etage der Volksbühne ist eine Bearbeitung unter dem Titel I spit on my grave zu sehen. (Außerdem läuft seit Mitte Oktober eine anspruchsvolle Adaption in Hannover: Frankenstein oder eine Frischzellenkur.) Das analysewütige Monster in mir war schmatzend erwacht. Was! Sagt! Uns! Dieser! Text! Heute? Welche Schlüsse über Wissenschaft und Verantwortung, Anderssein in der Welt, radikale Einsamkeit und zurückgewiesene Liebe würde man ziehen können? Einen wunderschönen Text mit eleganten Passagen über die Erfahrung der transzendentalen Obdachlosigkeit des Menschen wollte ich für Sie schreiben und wie diese im Theater überwunden werden kann. Manchmal.
Doch ich weiß nicht, wie es kam, ob ich vor lauter voreiliger Rührung die Zeit nicht mehr im Blick hatte, jedenfalls verpasste ich vergangene Woche die Aufführung in der Volksbühne. Gut, dachte ich, eine Chance habe ich ja noch. Aber dann begann sich ein störrischer Satz meinem Vorhaben in den Weg zu stellen: „Aufgrund einer Erkrankung im Ensemble muss die Vorstellung leider entfallen.“ Stattdessen vielleicht Hauptmanns Einsame Menschen mit einem queeren Dreh? „Aufgrund einer Erkrankung im Ensemble muss die Vorstellung leider entfallen.“ Meinen eleganten Text jetzt endgültig über Bord werfend, wollte ich mich noch ins Gorki-Theater schleppen, zu Yael Ronens Death Positive, doch wie es der Titel eigentlich schon ankündigte, auch hier (Achtung, Variante): „Aus dispositorischen Gründen muss die Vorstellung leider …“
Moment mal. Früher, also wahrscheinlich meine ich das prä-pandemische Zeitalter, galt am Theater die knallharte Devise: „Der Lappen muss hochgehen.“ Mit Lappen ist hier der Vorhang gemeint. Ich kenne haarsträubende Geschichten, in denen hinter den Kulissen Darsteller:innen zusammenbrachen und wiederbelebt werden mussten, während der Inspizient alle anderen anschrie: „Los, weiter, weiter!“ Wie viele Vorstellungen habe ich schon gesehen, bei denen Regieassistent:innen oder Schauspielkolleg:innen mit Textbuch für die Erkrankten einsprangen, oft die Lacher absahnend, wenn sie orientierungslos über die Bühne irrten. Philipp Hochmair, der vor zwei Jahren über Nacht den Jedermann für den erkrankten Tobias Moretti übernahm? Wurde als das „Sommermärchen von Salzburg“ bejubelt.
The show must go on – diese Redewendung beschrieb bisher die alles andere Leben verbrennende Theaterkunst. Gilt jetzt eher „Alles kann, nichts muss“? Hat etwa die Allgegenwart von Krankheit und Sterblichkeit, die in der Pandemie gestiegene Sensibilität für menschliche Versehrtheit an sich, schon einen Kulturwandel im Theater eingeleitet? Burn-out und Überbelastung – das waren die Themen, die das Theatersystem zuletzt umgetrieben haben. Während der Schließungen wurden entspanntere Spielpläne und mehr Nachhaltigkeit im Umgang mit der Ressource Schauspieler:in diskutiert. Lassen die Häufungen von Vorstellungsausfällen an vielen Theatern jetzt vielleicht vermuten, dass man bei einer anderen Haltung gegenüber dem Betriebswerk Mensch angekommen ist?
Vergangene Woche ging ich dann nach Hause und tat das, was ich seit anderthalb Jahren mache. Ich landete in irgendeiner Mediathek und sah einen Dokumentarfilm über den Autor Thomas Brasch, der im Schreiben für das Theater Erlösung suchte. Da war ich dann doch wieder bei meinem Frankenstein-Thema: Wie fangen wir, als Kreaturen in die Welt geworfen, ein bestmögliches Leben an? Und stellt das Theater diese Frage vielleicht gerade dadurch, indem es die Vorstellungen einfach auch mal ausfallen lässt?
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