Durchhalten, dann treffen wir uns im Dunkeln

Bühne Unsere Kolumnistin kann gerade nicht mehr – vor allem keine Online-Theatervorstellungen sehen. Zuflucht findet sie in der Erinnerung
Ausgabe 09/2021
Dunkel, voll und eng: Die Berliner Volksbühne pre-Corona, so wie Theaterfreunde sie kennen und lieben
Dunkel, voll und eng: Die Berliner Volksbühne pre-Corona, so wie Theaterfreunde sie kennen und lieben

Foto: Martin Müller/IMAGO

Irgendwie kann ich gerade nicht mehr. Vielleicht ist es Frühjahrsmüdigkeit, vielleicht bin ich mit einer Corona-Depression infiziert oder vielleicht ist mein Resilienzpotenzial auch schlicht aufgebraucht und ich schaffe die paar Tage, Wochen oder Monate nicht mehr, die es jetzt noch gilt durchzuhalten, wenn ich die allgemeinen Ansagen richtig verstanden habe.

Und wie das eben so ist, wenn man erst mal einen Grauschleier vor dem eigenen Filter hat, kann man für anderes nur noch mühsam Interesse aufbringen. So geht es mir mit den unermüdlichen digitalen Formaten im Theater, über die ich von Kritikerkolleg:innen erfahre, sie würden immer schöner und überraschender. Wie der letzte Stream an der Volksbühne Berlin von Alexander Eisenachs Anthropos, Tyrann (Ödipus) in Zusammenarbeit mit dem Theater des Anthropozän der Humboldt-Universität. Ein „ganz großer Wurf“ im theatralen Nachdenken über den Klimawandel, lese ich. Oder das digitale Brecht-Festival aus Augsburg. Soll auch ganz toll sein. Oder die School of Resistance von Milo Rau an der Akademie der Künste, ein hochkarätiges Digital-Panel zur Einübung von künstlerischem Widerstand. Aber das alles lockt mich gerade nicht hinter meinem Lockdown-Ofen hervor. Ich nicke eher düster zustimmend, wenn der noch amtierende Intendant der Volksbühne, Klaus Dörr, jetzt im Interview erzählt, er habe für das Theater der kommenden Jahre keine positive Prognose: Er befürchtet einen finanziell bedingten massiven Rückgang der Produktionen und glaubt, dass ein Fünftel der Theaterschaffenden sich einen neuen Job suchen muss. Na Prost!

Nach solchen Ansagen liege ich dann ermattet auf der Couch, starre an die Decke und wünsche mir, dass jetzt alles wieder so wird, wie es früher vielleicht mal war. Auch ertappe ich mich dabei, dass ich zu einer Theatergroßmutter mutiere, die behutsam die Flaschen ihrer Theatererinnerungen entkorkt, in Vergangenem schwelgt und sich daran besäuft.

Weißt du noch, kichere ich dann mit mir selbst in meinem Erinnerungstheater, als du Peter Brook bei einem Gastspiel in den Sophiensälen sagen wolltest, wie sehr du seine Arbeit bewunderst, aber so nervös warst, dass du nur stumm vor ihm rumgestanden hast und er dich dann so hobbitmäßig anblinzelte, wie um zu sagen „Ist schon gut“.

Oder das junge Pärchen, das sich heimlich in die letzte Aufführung der Faust-Inszenierung von Castorf an der Volksbühne schlich? Wie sie sich neben dir, ganz außen sitzend, auf der Treppe wälzten, Rotwein soffen und dann im Dunkeln anfingen, übereinander herzukeuchen, was verdächtig nach beginnendem Sex aussah? Und wie die Frau vor dir aufsprang und unter Anwendung furchterregender Zisch- und Flüsterlaute die beiden dermaßen zusammenfaltete, dass das hypersexuelle Paar für den Rest des Abends nur noch verstört auf den Stufen kauerte?

Und weißt du noch, als der Schauspieler Joachim Meyerhoff in Die Welt im Rücken in einem erschütternden und hochsensiblen Moment von einem Selbstmordversuch erzählt und deine Sitznachbarin plötzlich aus ihrem Dämmerzustand hochfährt, ihrer Freundin auf den Oberschenkel klatscht und laut sagt: „Mensch Monika, du kriegst ja noch zwanzig Euro von mir!“ Und weißt du noch, wie du das starke Bedürfnis unterdrücken musstest, Monikas Begleitung an den Haaren zu ziehen?

An so was denke ich, wenn ich zurzeit an das Theater denke. Menschen kommen im Dunkeln zusammen und erleben unfassbar interessante Dinge. „Wir sind Erinnerung“, heißt die bekannte Identitätsformel von Daniel L. Schacter, erst diese machen uns überhaupt zu Menschen. Also los, endlich Zeit, dem Erinnerungstheater neue Bühnen zu eröffnen.

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