Festival „Jüdische Ossis“: Sie wurden doppelt vergessen
Geschichtsschreibung Jüdisches Leben in der DDR? Da wurde vor allem die Sicht von Jüdinnen und Juden lange ignoriert. Weshalb das Mini-Festival „Jüdische Ossis“ viele überrascht
Ob Menschen zweimal vergessen werden können? Kann Erinnerung mehrfach versagen? Bei dem bewegenden Festival Jüdische Ossis, das vergangenes Wochenende am Hans-Otto-Theater in Potsdam stattfand, drängte sich dieser Eindruck auf.
Das Festival, eine Veranstaltung des Instituts für Neue Soziale Plastik, warf an zwei Tagen Licht auf ein bisher kaum besprochenes Kapitel deutscher Geschichte, nämlich der jüdischen Erfahrung in der DDR. Dass Kunst und Kultur hier ganz besonders von jüdischen Remigrant*innen geprägt wurden, die nach 1945 mit der aufrichtigen Hoffnung in die sowjetische Besatzungszone kamen, hier ein antifaschistisches, „besseres Deutschland“ mit aufbauen zu können, ist allgemein zu wenig bekannt. Genauso wie die Tatsache, dass
46;nnen, ist allgemein zu wenig bekannt. Genauso wie die Tatsache, dass 1952 etwa 500 Jüdinnen und Juden das Land unter dem Druck einer antisemitischen Verfolgungskampagne wieder verließen. 70 Jahre sei das jetzt her, sagte die Kuratorin des Festivals, Stella Leder, zum Auftakt. Es sei bedrückend, dass dieses Ereignis in der offiziellen Auseinandersetzung mit Antisemitismus nach 1945 überhaupt keine Rolle spiele.Jüdische Erfahrungen seit Beginn der frühen DDR sind also einem doppelten Vergessen unterworfen: zunächst in der DDR selbst, in der jüdisches Leben marginalisiert, Antisemitismus geleugnet und die Singularität der Shoa lange verkannt wurde – und in der jüdische Künstler*innen wie Anna Seghers, Jurek Becker, Stefan Heym, Hanns Eisler, Arnold Zweig oder Wolf Biermann für kommunistische Positionen standen (auch weil sie sich selbst oft in erster Linie als kommunistisch begriffen). Nach 1989 wiederum verschwand diese ohnehin schon von Verdrängung geprägte Geschichte ostdeutscher jüdischer Identitäten zusammen mit der DDR an sich. Oder wie es die Autorin Barbara Honigmann auf dem Festival zusammenfasste: „Es interessierte sich nach der Wende doch niemand für ostdeutsche Juden, die Stasi war da wichtiger.“Placeholder image-1Sogar während des Festivals, dessen Veranstaltungen fast immer voll besetzt waren, konnte man Zeuge werden, wie das Außerachtlassen jüdischer Perspektiven weiterhin für erhebliche Bewusstseinslücken sorgt. Eher unfreiwillig entlarvend sprach beispielsweise die Intendantin des Hans-Otto-Theaters, Bettina Jahnke, zur Eröffnung davon, dass man zwar „jüdische Themen“ im Spielplan hätte, nämlich Shakespeares Der Kaufmann von Venedig. Bei einem Publikumsgespräch mit jüdischen Teilnehmer*innen habe man allerdings erfahren können, dass diese überraschenderweise ganz andere Perspektiven auf den Stoff hätten. Das sei interessant gewesen, da könne man voneinander lernen.Was Alfred Dreifuß erlebteAbgesehen davon, dass rätselhaft bleibt, was Jüdinnen und Juden da von Deutschen lernen sollten, bringt dieses Statement die Gesamtsituation vielleicht ganz gut auf den Punkt: In Deutschland stellen jüdische Perspektiven nach wie vor eine „Überraschung“ dar. So bitter das ist, so wichtig war deshalb dieses Festival.Die zwei Tage Lesungen, Diskussionen und Musik begannen mit der Geschichte von Alfred Dreifuß, dem ersten, kurzzeitigen Intendanten des heutigen Hans-Otto-Theaters. Seine erschütternde Biografie hat die Literaturwissenschaftlerin Bettina Leder aus den Archiven der Akademie der Künste gehoben und für eine intensive performative Lesung eingerichtet. Bettina Leder ist die Mutter der Kuratorin des Festivals und die Tochter des jüdischen DDR-Autors Stephan Hermlin. Die Geschichte dieser drei Generationen wiederum ist in dem unbedingt empfehlenswerten Buch von Stella Leder nachzulesen: Meine Mutter, der Mann im Garten und die Rechten.Alfred Dreifuß entkam nach Internierungen in Dachau und Buchenwald nach Shanghai, wo er zwölf Jahre im Exil verbrachte. Nach Kriegsende zurückgekehrt, wurde er wie viele andere ehemalige Verfolgte zunächst mit hohen Posten innerhalb des Kulturbetriebs betraut. Doch die Ausrichtung der SED zu einer „Partei neuen Typus“ im Format der stalinistischen KPdSU führte bald zu einer strategischen Verfolgung von vermeintlich „schädlichen und feindlichen Elementen“. Dreifuß war ein Opfer dieser antisemitisch geprägten Kampagne. Er wurde unter anderem mit dem Vorwurf, er habe sich mit zwanzig Meter geklautem Theaterstoff der „Spesenmacherei“ schuldig gemacht, „dunkler Machenschaften“ überführt (ein nicht gemeldeter Kontakt zu einer Gräfin am Savignyplatz in Berlin-Charlottenburg fiel ebenfalls ins Gewicht). Er wurde zum feindlichen Agenten erklärt. Seine Entlassung nach zwei Jahren Haft fiel in eine Hochzeit antisemitischer Verschwörungstheorien: 1952 wurden bei den Prager Schauprozessen 14 Mitglieder der Kommunistischen Partei verurteilt, fast alle von ihnen waren Juden. Elf wurden hingerichtet. Fast zeitgleich erfand Stalin die „Ärzteverschwörung“, ein angebliches Komplott jüdischer Mediziner, die ihm nach dem Leben getrachtet haben sollen. Es war das Jahr, in dem aufgrund der antisemitischen Verfolgungen auch viele Jüdinnen und Juden aus der DDR flohen. Alfred Dreifuß sollte bleiben und um Rehabilitierung kämpfen. In hohem Alter erklärte er sich sogar noch zu einer Tätigkeit als IM der Stasi bereit. „Aus Angst“, sagt anschließend seine bei der Lesung anwesende Tochter Andrea Dreifuß. Erst gegen Ende des Lebens sollte er sich seinen jüdischen Wurzeln zuwenden und davon sprechen, dass seine Lebenserfahrung ihn zur „Einsicht in die Ethik des Judentums“ geführt habe.Das Schweigen über die eigene jüdische Identität bei den Remigrant*innen in der DDR stößt bei der nachgeborenen Generation auf teils heftigen Widerspruch. „Warum sprecht ihr nicht über die Gräber eurer Familien, warum seid ihr überhaupt in die DDR zurückgekehrt?“, will Barbara Honigmann in ihrem Buch Georg wissen, das ihrem Vater gewidmet ist. Sie sitzt am zweiten Tag des Festivals zusammen mit Gregor Gysi auf der Bühne und liest. In ihren Texten wird die unentrinnbare Enge deutlich, die das deutsch-jüdische Verhältnis nach der Shoa bestimmt: „Deutsche und Juden sind in Auschwitz ein Paar geworden, das auch der Tod nicht mehr trennt.“ Eine Beziehung sei entstanden, „in der Juden den Deutschen mit ihrer schrecklichen Geschichte nur noch auf die Nerven fallen, deshalb ist selbst ein Minimum jüdischer Identität in Deutschland schon zu viel“. Es sind offenbarende Texte, in denen Honigmann beschreibt, wie sie, „kühl und leer ums Herz“ beginnt, sich nach dem künstlerischen Exodus im Zuge der Biermann-Ausweisung 1976 mit jüdischer Geschichte zu befassen: „Dit war abendfüllend.“ Sie beschließt, mit ihrer Familie nach Frankreich auszuwandern, wo man ihnen nicht geglaubt habe, „dass es in der DDR Juden gibt“. Honigmann und Gysi kennen sich seit Kindertagen. Er sei bei ihrer Hochzeit dabei gewesen und könne nicht begreifen, dass die Ehe immer noch halte, scherzt er. Es wird überhaupt ein chaotisches und heiteres Gespräch. „Wussten Sie, dass das Judentum die Dialektik erfunden hat?“, fragt Gysi bestens aufgelegt das vergnügte Publikum und erzählt „zum Beweis“ folgenden Witz: „Kommt ein Jude wütend nach Hause. Fragt sein Bruder: Warum bist du so wütend? – Ach, ich habe den Rabbi gefragt, ob ich beim Beten rauchen darf, und er sagte, das gehe auf gar keinen Fall! – Du bist aber dumm, antwortet der Bruder. Du hättest fragen müssen: Darf ich beim Rauchen beten? Das wäre in Ordnung gewesen!“ Schallendes Gelächter. Honigmann sagt: „Das jüdische Volk ist wie Tag und Nacht. Das ist ja das Schöne und Bewegende daran, es kommt aus aller Welt und ist trotzdem verbunden.“Für die dritte Generation „jüdischer Ossis“ wurde dieser Aspekt entscheidend. Mit dem Ende der UdSSR konnten sogenannte jüdische „Kontingentflüchtlinge“ von dort nach Deutschland kommen. Dimitrij Kapitelman ist 1986 in Kiew geboren, wuchs in Leipzig auf. Seine unfassbar intelligent geschriebenen Romane erzählen von der eskalierenden Gewalt, die sich in den 90er-Jahren entlädt. Seine „ostdeutsche“ jüdische Erfahrung bestand darin, „dass alle, die keine erkennbaren Nazis waren, sich in Grünau gut überlegen mussten, wie sie heil nach Hause kamen“. Diese bürgerkriegsähnlichen Zustände hätten sich mittlerweile institutionalisiert, sind in die Parlamente eingezogen, sagt er. Womit wir wieder bei der Überraschung wären. Aus jüdischer Perspektive ist es das nicht. Das Festival stand übrigens unter Polizeischutz.