„Geschmack ist trügerisch“: Regisseur Christopher Rüping über Diversität

Interview Die Stücke von Regisseur Christopher Rüping sind oft große Erfolge. Im Gespräch erzählt er, warum Form aus Inhalt folgt und wie es mit mehr Diversität im Team gelingt, ein diverses Publikum anzusprechen
Ausgabe 14/2023
Viviane De Muynk und Anne Rietmeijer u.a. in Christopher Rüpings Inszenierung „Das neue Leben“
Viviane De Muynk und Anne Rietmeijer u.a. in Christopher Rüpings Inszenierung „Das neue Leben“

Foto: Jörg Brüggemann/Ostkreuz

Seine zarten und lebenshungrigen Inszenierungen sind große Publikumserfolge und wurden bereits fünf Mal zum Berliner Theatertreffen eingeladen: Christopher Rüping ist einer der interessantesten Theatermacher der deutschsprachigen Bühnenwelt. Doch als Hausregisseur am Schauspielhaus Zürich blieb der Erfolg aus. Die monatelange hitzige Diskussion um eine angeblich zu identitätspolitische Ausrichtung des Hauses endete Ende Februar mit der Kündigung des Intendantenteams Nicolas Stemann und Benjamin von Blomberg. Rüping inszeniert nun in München zum ersten Mal eine Oper. Dort trafen wir ihn.

der Freitag: Herr Rüping, um das Schauspielhaus Zürich entwickelte sich in den letzten Monate eine teils scharf geführte Debatte. Der von konservativen Medien eingebrachte Vorwurf lautete, das Theater sei ein „House of Wokeness“, würde sich nur um die Belange von Minderheiten kümmern und damit sein traditionelles Publikum verprellen. Wie haben Sie diese Zeit erlebt?

Christopher Rüping: Na ja, diese Diskussion um „Wokeness“ halte ich für eine Scheindiskussion. Letztlich handelt es sich da um Rückzugsgefechte von konservativen Kräften, die sich anscheinend von irgendwas bedroht fühlen oder das Gefühl haben, sie kommen nicht mehr vor: „Die Welt dreht sich zu schnell für mich, und ich bin nicht mehr im Zentrum, was ist da los, das kann nur falsch sein.“ Wir machen die Kunst, an die wir glauben. Die Diskussion drehte sich aber vor allem um strukturelle Angelegenheiten: um die Einstellung der Diversitätsbeauftragten Yuvviki Dioh oder die Verwendung des Gendersternchens in der Kommunikation mit dem Publikum. Was mir in der Diskussion gefehlt hat, war das Theater – also das, was auf der Bühne stattfindet. Und ja, ich teile die Überzeugung, dass mit dem Versuch, die Kunstform Theater für so viele wie möglich zu öffnen, eine bessere, reichere, freiere, wildere, aufregendere und interessantere Kunst entsteht.

Sie hatten kurz nach der Kündigung des Intendantenduos Nicolas Stemann und Benjamin von Blomberg auf Twitter geschrieben, dass die Entwicklungen jetzt zu beenden, ungefähr so sinnvoll sei, wie ein frisch bepflanztes Blumenbeet mit einer Planierraupe zu überfahren.

Veränderungen brauchen Zeit. Und große Institutionen wie das Schauspielhaus Zürich sind träge. Es ist wahnsinnig frustrierend, dass uns diese Zeit nicht gegeben und das Projekt beendet wurde, bevor es ganz zu sich kommen konnte. Ich hoffe sehr, dass man denjenigen, die nach uns kommen, mehr Zeit gewähren wird.

Ursprünglich lautete der Auftrag, das Schauspielhaus für ein diverseres Publikum zu öffnen. Wie geht man das an?

Die Menschen, die an der Entstehung eines Kunstwerks beteiligt sind, spiegeln sich zum Teil im Publikum. Würde man zum Beispiel dreißig männliche Rentner aus München ein Stück entwickeln lassen, dann ist die Chance hoch, dass sich im Publikum – nicht ausschließlich, aber hauptsächlich – andere bayrische Männer versammeln und gemeint fühlen würden. Ich halte das für eine der Wahr-heiten des Theaters. Wenn man ein diverseres Publikum erreichen will, muss man sich also fragen: Welche Stimmen beteiligt man in der Kreation von Theaterkunst? Und wie schafft man eine Struktur, in der sich möglichst viele verschiedene Stimmen beteiligen können und wollen?

Sie selbst gelten als Teamplayer. Ist dieses Miteinbeziehen von vielen Stimmen schon immer eine Handschrift von Ihnen gewesen?

Das müssen wahrscheinlich andere beurteilen, aber ich würde sagen, dass ich mich von Anfang an darum bemüht habe, allen Beteiligten eine Form der Autor*innenschaft zu ermöglichen. Denn nur so finden andere Expertisen, Gedanken und Gefühle als meine eigenen ihren Weg auf die Bühne. Meine große Hoffnung ist, dass alle, die an dem Prozess beteiligt sind, ihre Spuren im Ergebnis hinterlassen. Das wäre etwas, woran ich den Erfolg einer Produktion für mich messen würde.

Ich sehe aber immer auch eine deutliche künstlerische Form, eine starke Idee bei Ihnen. Wie gehen Sie also an Stoffe heran?

Ich muss immer eine Kernfrage finden können, die im Stoff verankert ist und gleichzeitig möglichst weit über diesen hinausweist. Mich hat in der Coronazeit zum Beispiel die Frage nach Trost nicht losgelassen: Wie findet und spendet man Trost? Das wollte ich behandeln. Dann bin ich auf den Text Das neue Leben von Dante gestoßen. Auch hier geht es unter anderem um Trost – wir haben den Text dann im Probenprozess gemeinsam auf dieses Thema hin abgeklopft und aus den Fragmenten, die uns passend erschienen, einen eigenen Abend gebaut.

Wie kommt es dann von dieser Kernfrage zu einer künstlerischen Form?

Das neue Leben am Schauspiel Bochum hatte direkt nach einem Lockdown Premiere. Da war es schon viel, überhaupt wieder mit so vielen Fremden in einem geschlossenen Raum zu sitzen. Wir wollten daher den Anfang der Inszenierung nicht überfrachten: kein Bühnenbild, keine aufwendigen Kostüme. Es reichte schon, dass jemand auf die Bühne kommt und einfach sagt: „Neun Mal schon war seit meiner Geburt der Himmel auf seiner Umlaufbahn an dieselbe Stelle zurückgekehrt, als meine Augen zum ersten Mal die Herrin meines Herzens erblickten.“ Im ersten Teil der Inszenierung steht also der Mensch im Zentrum: Die Bühne ist leer und der Mensch füllt sie mit seinen Worten, Taten und Gedanken. Eine zentrale Erfahrung der Pandemie ist nun aber, auf wie wackligen Füßen dieses Weltbild eigentlich steht: Plötzlich sind die Entscheidungen nicht mehr frei, die eigene Autonomie wird untergraben. Deswegen haben wir einen zweiten Teil entwickelt, in dem die Akteur*innen das Geschehen nicht mehr im Griff haben, in dem sie plötzlich zu Statisten in ihrem eigenen Leben werden. So wie Dante durch die neun Kreise der Hölle wandern und die neun Terrassen des Läuterungsberges hinaufklettern muss, so arbeiten sich die Schauspieler*innen zweimal neun Minuten lang durch ihre eigene Ohnmacht – beleuchtet einzig von einem sich drehenden Lichtpendel, das allein bestimmt, was wir zu sehen bekommen.

Das ist interessant. In Ihren Arbeiten vermittelt sich dieser Sinn für die Form, finde ich.

Ich versuche immer, die jeweilige Form des Abends aus dem Inhalt abzuleiten und nicht einfach meinem Geschmack zu folgen. Das ist etwas, was ich in den letzten Jahren immer mehr zu verstehen lerne: Geschmack ist trügerisch. Ich dachte lange Zeit, mein Geschmack sei individuell und unverwechselbar. Aber Geschmack bildet sich natürlich aus Erfahrungen und anhand von äußeren Einflüssen. In ihm bilden sich die eigenen Scheuklappen und Privilegien ab. Seinem Geschmack sollte man misstrauen, was gar nicht so einfach ist. Man hat ja trotzdem Überzeugungen. Aber die spezifische Ableitung bestimmter szenischer Einfälle aus einer konzeptuellen Idee ist meine beste Versicherung gegenüber dem Terrorismus des Geschmacks eines Regisseurs.

Worin sehen Sie als Regisseur Ihre Hauptaufgabe?

Man muss gut zuhören und genau hinsehen können. Ich persönlich empfinde es als meine Verantwortung, zu versuchen, den Raum so offen zu gestalten, dass jede*r ihn betreten kann. Gleichzeitig halte ich es für meine Aufgabe, einen spezifischen Anstoß zu geben und den verschiedenen Gedanken, Fragen und Ideen einen gemeinsamen Rahmen zu geben.

Welches Versprechen hält Theater für Sie bereit?

Begegnung. Das Schönste, was passieren kann, ist, wenn sich im Theatersaal aus einer Ansammlung von Fremden eine so unwahrscheinliche wie flüchtige Gemeinschaft bildet. Und wenn diese Gemeinschaft sich dann gemeinsam den Themen stellt, mit denen sie sich im alltäglichen Leben nicht beschäftigen kann oder will – dann wird’s meistens interessant.

Zur Person

Christopher Rüping, 37, studierte Regie in Hamburg und Zürich. Im Mai feiert seine erste Operninszenierung Il ritorno / Das Jahr des magischen Denkens nach Claudio Monteverdi und Joan Didion an der Bayerischen Staatsoper in München Premiere

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Verändern Sie mit guten Argumenten die Welt. Testen Sie den Freitag in Ihrem bevorzugten Format — kostenlos.

Print

Die wichtigsten Seiten zum Weltgeschehen auf Papier: Holen Sie sich den Freitag jede Woche nach Hause.

Jetzt kostenlos testen

Digital

Ohne Limits auf dem Gerät Ihrer Wahl: Entdecken Sie Freitag+ auf unserer Website und lesen Sie jede Ausgabe als E-Paper.

Jetzt kostenlos testen

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden