Gesprächige Tote

Volksbühne Frank Castorf nimmt mit der Sterbensinszenierung „Ein schwaches Herz“ zum zweiten Mal Abschied
Ausgabe 23/2017

Es ist der wirklich echte Abschied von Frank Castorf, der altersmilde Titel des Stückes lautet Ein schwaches Herz. Das Publikum zeigte sich betont gefasst. Doch was hatte man sich eigentlich erwartet? Ein wehmütiges Winken? Einen krachenden Nachhall?

Der Abend ist eine einzige, von wunderlichen Merkwürdigkeiten durchzogene, düstere Überraschung. Schon das Bühnenbild ist ein Arbeiten gegen die Erwartung. Statt eines multimedial verschachtelten Wunderkastens reiht sich von der Bühne bis hoch auf die asphaltierte Fläche im Zuschauerraum eine Flucht aus verstaubtem Mobiliar. Bette, Tische, Stühle und Türen, als sei man in einer Abstellkammer mit vergessenen Kulissen gelandet. Und wenn Kathrin Angerer den Abend mit den Worten beginnt: „Oh, Mann ey! Ich komme mir vor wie in Senftenberg!“, dann öffnet sie damit den Erinnerungsraum der Geschichte der Volksbühne unter Castorf, die eben in Senftenberg, seiner ersten Wirkungsstätte, gewissermaßen ihren Anfang nahm.

Nichts mehr verbieten

Ein schwaches Herz ist eine schwache, eine vom Tode gezeichnete Inszenierung. Fast scheint es, als wolle das Genie sich hier bewusst vor aller Augen demontieren. Der Abend ist dermaßen entkleidet von jeglichen vertrauten Effekten, so rhythmusfrei, so bruchstückhaft, so sadistisch lang, so provozierend unvirtuos, dass man schließlich glaubt, man schmore in einer Art Theaterhölle der Verweigerung. Dabei ist diese Abschiedsinszenierung wohl eher eine offene Wunde, aus der viereinhalb Stunden lang ohne Pause das Blut sickert.

Drei Werke werden hier noch einmal zu einem Bezugsnetz verwoben, die Dostojewski-Erzählungen Bobok und eben Ein schwaches Herz sowie das Theaterstück Iwan Wassiljewitsch von Michail Bulgakow. Es geht um verfehlte Liebe, um nicht verdientes Glück, um den Wahnsinn künstlerischer Arbeit, um gesprächige Tote in ihren Gräbern, um eine Reise in die Vergangenheit mit einer Zeitmaschine und um die eigene Dankbarkeit, die man vielleicht zu wenig gezeigt hat.

Es fällt schwer, in diesem Themenreigen nicht den letzten, persönlichen Kommentar zu der erzwungenen Volksbühnenübergabe zu erkennen. Es fallen Sätze wie „Wie hätte ich denn weggehen sollen, ohne die Sache zu Ende zu bringen?“ und: „Warum gehst du denn nicht? Unerträglich, dein schwaches Herz!“ In der ausgestellten, melodramatisch eingefärbten Spielweise weht das Gesagte wie aus dem Jenseits herüber, darunter brummen und sirren unheilvolle, sphärische Klänge. Hier wird demonstrativ aus dem Grab heraus gespielt, wird auch versucht, noch vor dem Tod zu klären, was nach dem Tod bleibt. So wird die Bühne noch einmal von den Gespenstern eines gemeinsam verbrachten Lebens bevölkert. „Es ist ja auch sehr traurig, wir haben ja alle lange zusammen gelebt“, heißt es.

Doch in einer der Friedhofsszenen liegen diese atemberaubenden Schauspieler auf dem Boden, dem Zuschauer direkt zu Füßen, quasseln sich was in ihren Gräbern zurecht und stellen dabei triumphierend fest, dass das Grab schließlich auch einen Sinn habe, denn: „Hier kann man uns überhaupt nichts mehr verbieten!“, und planen kurzerhand eine Art utopischen Aufstand im Totenreich. Da war er dann wieder, der Geist der Volksbühne, der uns als untotes Wesen sicherlich noch lange heimsuchen wird.

Info

Ein schwaches Herz Regie: Frank Castorf Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz

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