Es gibt dieses viel geliebte Zitat von Bertold Brecht, das da lautet, Theater müsse wie Fußball sein, oder präziser: „Man muss ins Theater gehen wie zu einem Sportfest.“ Er meinte damit, dass die Zuschauer sich mit derselben Expertise und erregten Besserwisserei, mit der sie einem Spiel beiwohnen, auch im Theater einmischen sollten. Das Publikum stünde dann im Parkett und würde „Los, mach, lauf!“ schreien, oder man könnte in regelmäßigen Abständen motivierend die Nachnamen der Schauspieler brüllen, die am Textball sind („Wuttkäh!“), und in der Pause würden die Theaterhooligans sich im Foyer mit Buletten bewerfen und gegenseitig Sekt ins Gesicht schütten. Solche Szenen würden sich zweifelsohne allgemein belebend auf jegliches Theatererlebnis auswirken, doch von diesem Traum der Leidenschaft sind wir als Publikum noch weit entfernt. Leider.
Aber. Vergangenen Samstag gingen am Deutschen Theater in Berlin die Autorentheatertage zu Ende. Seit zwanzig Jahren haben sie sich als feste Institution etabliert, Gegenwartsdramatik zu fördern und zu zeigen. Seit Anfang Juni waren auf dem Festival ausgewählte Gastspiele zu sehen, nun schloss es traditionell mit den Uraufführungen der von der Jury als Gewinnerstücke ausgelobten Werke ab. Und als wollte man es hier zumindest mal zaghaft mit der Brecht-Forderung probieren, ließ man die drei Stücke im Binge-Watching-Modus um 18 Uhr, 20 Uhr und 22 Uhr durchlaufen und bot parallel um 20 Uhr das WM-Spiel Deutschland gegen Schweden in der Bar als Public Viewing an.
Ein Wischmopp interveniert
Los ging es mit Simone Kuchers Eine Version der Geschichte, ein brav geschriebenes Stück, das die Geschichte der Violinistin Lusine erzählt, die mit ihrem Bruder auf einer historischen Tonaufnahme die Stimme ihres Großvaters zu erkennen meint und beginnt, der armenischen Herkunft ihrer Familie auf den Grund zu gehen. Dabei trifft sie, wie könnte es anders sein, auf familiäre Verdrängungsmechanismen und entdeckt, dass die Familie des Großvaters Opfer des Genozids an den Armeniern war.
Der Text will viel verhandeln: Es wimmelt nur so von problematischen Aspekten in Sachen Geschichte, Sprache, Identität, Erinnerung, Verdrängung und Generationenkonflikt. Man hört Sätze wie: „Armenisch ist mir am nächsten, aber ohne Anker einer Struktur, ich fühle mich haltlos ihren Zeichen ausgeliefert!“ Die so zu Metaphernschwere und Pathos neigende Vorlage wurde zusätzlich mit der Idee überfrachtet, das Ganze hinter der Plexiglaswand einer Tonkabine zu spielen. Doch das permanente „Licht an! Licht aus!“ in dieser Tonkabine, das die sehr kurzen Vier-Sätze-Szenen voneinander trennte, schlug dabei ebenso auf das wohlwollende Zuschauergemüt wie das plumpe In-Szene-Setzen von Verdrängungsvorgängen, dergestalt, dass sich Schauspieler die Ohren zuhalten und schreien: „Ich will das nicht mehr hören.“
Nach 90 Minuten jedoch, so lange dauerten alle Stücke (Theater und Fußball, weeßte!), konnte man sich endlich schnell zurück zur Bar drängeln, denn da warteten auf Großleinwand die Mannschaft und ihre kundigen Kommentatoren. Der Anpfiff sollte pünktlich zu Beginn des zweiten Stückes erfolgen, zur Uraufführung von Europa flieht nach Europa der neuen österreichischen Autorinnenhoffnung Miroslava Svolikova. Gebannt wurden die Werbeeinspieler kurz vor Spielbeginn verfolgt, in der Hoffnung, das Spiel würde irgendwie doch schon früher starten und man könnte noch ein Tor in der elften Sekunde bejubeln, bevor sich die rotsamtenen Türen des Saals unbarmherzig hinter einem schlössen. Stattdessen warb ein berühmter Schauspieler mit neuem Vollbart für den Elektro-Audi: „Ach nee! Daniel Brühl!“, riefen da einige – Theatergängern entgeht ja bekanntlich gar nichts.
Die Geschichte von der „ein wenig naiven Europa“ wie es im Programmheft heißt, erzählt als dramatisches Gedicht in mehreren Tableaus, gestaltete sich jedoch extrem vergnüglich und intelligent. Die antike Figur der Europa, eine Enkelin Poseidons, die einst auf einem weißen Stier (verwandelter Zeus) durchs Meer reitend neues Land betrat und sich eine Utopie erschuf, wird von der umwerfenden Burgschauspielerin Dorothee Hartinger als eine vom Burnout bedrohte Daueroptimistin gezeigt. Mal als Chorleiterin, welche die verschiedenen kakofonischen, zerstrittenen Stimmen in Europa mit einem Karaoke-Lied sanft zu einigen versucht, mal als Gastgeberin eines „Karnevals der Wirklichkeit“ im rosa Sissi-Kleid, unter dessen Glockenrock sich unzählige Milchbrüste verbergen, denn schließlich soll jeder was von Europa haben. Es wird von der Wut erzählt, die draußen blindlings durch die Straßen streift, weil keiner sie nach Hause ruft. Und als Europa davon schwärmt, einen „Regenbogen mit allen Farben Europas zu malen“, kommt ein überdimensionierter Wischmopp auf die Bühne und sagt, dass er hier nicht alle Farben mitmachen lasse, denn dann würde ja der Regenbogen braun. Miroslava Svolikova hat einen unheimlich klugen, witzigen und poetischen Text geschrieben, der die Abgründe zwischen Anspruch und Wirklichkeit, zwischen Utopie und Umsetzung spielerisch reflektiert.
Als man nach diesem Genuss wieder zur Großleinwand tappelte, stand es 1 : 1 und der Fußballchor skandierte bereits: „Auf geht’s! Auf geht’s!“ Nur noch wenige bange Minuten waren es da bis zum dritten und letzten Stück In Stanniolpapier von Björn SC Deigner, das sich noch nicht mal Uraufführung nennen durfte, da sich die Jury von der „sinnverdrehenden“ Fassung des Regisseurs Sebastian Hartmann „distanziere“, wie man aus einem Beilegezettel erfuhr. Kollektiv herbeigebrüllt wurde noch schnell das erlösende 2 : 1, dann ab zum Ausklang in die Kammerspiele, zur Uraufführung, die keine war.
Tatsächlich lässt Sebastian Hartmann von dem Text nicht viel übrig, in dem es stationenhaft um die Biografie der Prostituierten Marie geht. Auf der Bühne steht ein Betonbungalow, in dem sich Gewalt und Missbrauch abspielen, die Vorgänge im Haus werden mit Kamera auf die Außenwände projiziert. Man wollte hier wohl nicht in die Dokumentartheaterfalle tappen, sondern das Verborgene ans Licht zerren, ans Eingemachte gehen: die Schauspielerin Linda Pöppel schreit streckenlang Textfetzen in die Kamera – während sie ausgezogen wird, nackt über den Boden geschleift, betatscht und misshandelt wird. Staunend stellt man sich die Frage, ob die Inszenierung Gewalt an Frauen ästhetisiere – denn irgendwie sieht das alles sehr ansprechend aus: die sich drehende Bühne im Nebel, der dröhnende Club-Sound, das rote Licht, und mittendrin die schreiende Frau. Es fällt Männern offenbar wahnsinnig schwer, für das Leid der Frau eine Bildsprache zu entwickeln, die nicht pornografischen und voyeuristischen Bezügen entlehnt ist. Der Bilderwust an hysterischer Leidbehauptung erreicht dabei einen Grad an Absurdität, der im Publikum Lachanfälle provoziert – schlimmer kann es dieses Thema nicht treffen. Beim vorzeitigen Verlassen des Saals ist als letzter Satz noch zu hören: „Die Welt ist ein komischer Ort.“ Ja, möchte man meinen, wohl wahr.
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