Max Czollek: „Haben ‚wir‘ tatsächlich so viel aus der Geschichte gelernt?“

Interview Max Czollek hält die deutsche Erinnerungskultur für gescheitert. „Versöhnungstheater“ heißt seine neue Streitschrift, in der er kritisiert, dass es ihr nur um die „Wiedergutwerdung“ der Nachkommenschaft der Täter*innen gehe
Exklusiv für Abonnent:innen | Ausgabe 04/2023
Max Czollek: „Die Erinnerungskultur erfüllt die Bedürfnisse einer Dominanzkultur in Nachkommenschaft der Täter*innen.“
Max Czollek: „Die Erinnerungskultur erfüllt die Bedürfnisse einer Dominanzkultur in Nachkommenschaft der Täter*innen.“

Foto: Diana Pfammatter für der Freitag

Mit seinem Essay Desintegriert Euch! erteilte der Essayist und Lyriker Max Czollek dem Kult um die deutsche Leitkultur eine viel beachtete und gefeierte Absage. Das Buch über das deutsche Selbstverständnis als Geschichte von Ab- und Ausgrenzung wurde 2018 ein Bestseller. Jetzt erscheint sein neues Essay Versöhnungstheater (Hanser), in dem er die deutsche Erinnerungskultur kritisch unter die Lupe nimmt. Wir treffen uns Anfang Januar zum Gespräch in einem Kreuzberger Café, und das Land ist nach den Silvesterereignissen mal wieder vertieft in seinen Lieblingsdiskurs: die Integrationsdebatte. Frage also erst mal an Czollek, wie er auf die jüngste Wiederaufnahme dieses Dramas schaut.

der Freitag: Herr Czollek, was halten Sie davon, dass zum Jahresauftakt wieder über gelungene und nicht gelungene Integration diskutiert wird?

Max Czollek: Mich beschäftigt die Frage, was hier eigentlich gerade passiert. Wir arbeiten uns jetzt seit einem knappen Jahrzehnt an diesem Thema ab und es taucht immer genau so auf, als hätten all diese Diskussionen gar nicht stattgefunden. Diese Erfahrung macht man auch in Bezug auf andere Diskriminierungsformen. Man hat das Gefühl, dass man es schon hundertmal erklärt hat, aber offensichtlich ist die Erklärung nicht das, woran es mangelt. Es ist dieser starke Deutungsrahmen, der wie automatisch abläuft.

Was meinen Sie mit Deutungsrahmen?

Man meint ein Phänomen wie Gewalt zur Silvesternacht zu beobachten und hat bereits eine Vermutung, woran das liegt. Diese kausale Verbindung wird von einem Integrationsdenken bereitgestellt, das zwischen Fremdheit und Gewalt eine Verbindung zieht. Das ist kurios, weil wir ja vor Kurzem diese Reichsbürgergeschichte hatten und man durchaus analog fragen könnte: Ist die Tatsache, dass alle Verhafteten nicht-migrantische Deutsche sind, ein Problem gescheiterter Erinnerungskultur? Diese Frage stellt sich die deutsche Öffentlichkeit aber nicht. Diese Ungleichheit interessiert mich.

Worum geht es jetzt in „Versöhnungstheater“?

Die These meines neuen Essays ist, dass wir vor etwa zweieinhalb Jahrzehnten in eine neue Phase der Erinnerungskultur eingetreten sind, nämlich die des „Versöhnungstheaters“. In dieser dritten Phase wird die Infrastruktur der Erinnerung – die sich in Gedenktagen, in Holocaust-Mahnmalen, in politischen Reden, vor allem aber in symbolischen Handlungen niederschlägt – zum Ausgangspunkt für eine Neuerfindung Deutschlands. Es ist also die Erinnerungskultur selbst, die eine Art von Wiedergutwerdung dieses Landes nach 1945 ermöglicht hat – und zwar ohne tatsächlich auch die Wiedergutmachung zu leisten, die zu leisten gewesen wäre.

Haben Sie deshalb den Begriff des „Theaters“ gewählt, weil es sich bei dieser „Wiedergutwerdung“ um etwas Scheinbares, um eine Inszenierung handelt?

Das Problem ist nicht das Theater, sondern, dass die Aufführung für ein bestimmtes Publikum gedacht ist. Beim Versöhnungstheater geht es wie die Jahrzehnte zuvor um eine Art des Umgangs mit deutscher Geschichte, die die Bedürfnisse einer Dominanzkultur in Nachkommenschaft der Täter*innen erfüllt. Sicher, jede Form des Erinnerns ist auch eine Form des Vergessens. Aber es ist schon erstaunlich, dass es gerade die Ausdrucksweisen der Opfer sind, die aus dem Raum der deutschen Erinnerungskultur ausgeschlossen bleiben. Ihre Untröstlichkeit. Und ihre Wut. Mit meinem Essay will ich den Blick freibekommen für diese anderen Formen von Erinnerung, der Wahrnehmung und des Umgangs mit der Geschichte. Die offizielle deutsche Erinnerungskultur bildet das nicht ab – schon allein, weil nicht alle das Bedürfnis nach Wiedergutwerdung oder Versöhnung teilen.

Die Miteinbeziehung anderer Positionen würde das „Versöhnungstheater“ wahrscheinlich stören.

Ja, denn es würde die Frage stellen, ob „wir“ tatsächlich so viel aus der Geschichte gelernt haben. Und wofür die Erinnerungskultur eigentlich da ist, wenn die AfD, die Reichsbürger-Szene und der Wiederaufbau des Berliner Stadtschlosses nicht einmal mehr die Frage aufwerfen, was mit dieser schiefgelaufen ist. Und ich denke, die Verweigerung, diese Frage zu stellen, hat auch mit der deutschen Wiedergutwerdung zu tun, die ja maßgeblich auf der Annahme beruht, dass man die Geschichte erfolgreich bearbeitet hat. Eine Kritik würde also das Fundament infrage stellen, auf dem das positive deutsche Selbstbild bis hin zur aktuellen „Zeitenwende“ aufbaut. Denn ein zentrales Argument ist ja: Deutschland gönnt sich wieder einen militärischen Führungsanspruch, weil wir so gut erinnert haben.

Sie beschreiben im Rahmen dieser Vorgänge, dass die symbolische Ebene, auf der vorbildlich erinnert wird, und die reale Ebene, die dem überhaupt nicht entspricht, auseinanderdriften. Können Sie das näher beschreiben?

Der Punkt ist eher, dass man die symbolische Ebene als Ersatzhandlung vollzieht. Vergangenes Jahr konnte man das gut am gesellschaftlichen Umgang mit Antisemitismus nachvollziehen. Da hatten wir die Debatte um Antisemitismus auf der Documenta, den Bundesgerichtsbeschluss zum „Judensau“-Relief an der Wittenberger Kirche und die Ehrung von Spender*innen für das Stadtschloss Berlin, bei der klar wurde, dass auch Holocaustverharmloser und Antisemiten geehrt wurden. Würden wir in einer Gesellschaft leben, die ihren eigenen Anspruch nach Aufarbeitung ernst meint und nicht nur auf symbolischer Ebene beschwört, müssten doch alle drei Dinge Konsequenzen nach sich ziehen. Real konnten wir jedoch beobachten, dass sich die Diskussion auf die indonesische Künstler*innengruppe Taring Padi fokussierte. Und das ist kein Zufall, denn eine breite Debatte um die „Judensau“ in Wittenberg und vor allem die revisionistischen Spender*innen vom Preußenschloss hätte ja die Frage aufgeworfen, warum Teile der deutschen Gesellschaft weiterhin antisemitisch eingestellt sind und die Shoah oder christlichen Antijudaismus gar nicht so schlimm finden.

In dem letzten entlastenden Gutachten zu den Spender*innen des Stadtschlosses hieß es sogar, die betreffenden Personen seien ja „nicht im rechtsextremen Sinn antisemitisch“.

Ja, I love it! In dieser Aussage ist ja bereits eine implizite Anerkennung der Tatsache enthalten, dass es in der sogenannten bürgerlichen Mitte einen weitverbreiteten Antisemitismus gibt. Jetzt müsste man noch einen Schritt weiterdenken und sagen: Ja, genau darum müssen wir „bürgerliche Mitte“ als Konzept noch mal neu durchdenken. Denn das eignet sich nicht zur Stabilisierung der pluralen Demokratie.

Sie behaupten, dass das Berliner Stadtschloss ohne das Holocaust-Mahnmal nicht hätte gebaut werden können. Wie hängt das zusammen?

Die Gewalt der Geschichte wird im Rahmen der Erinnerungskultur an bestimmte Orte wie das Holocaust-Mahnmal gebannt und isoliert, damit der Raum frei wird für die Neuerfindung der guten deutschen Geschichte, die ja prominent im Berliner Stadtschloss verkörpert wird. Wolfgang Thierse sprach 2002 vom „Schließen einer Wunde“, womit er wohl meinte, dass die zerstörte Berliner Mitte die Wunde des Zweiten Weltkrieges ist und dass es zu einer aufrechten Demokratie dazugehört, diese Wunde zu schließen. Das ist eine typische Aussage der deutschen Erinnerungskultur in der Phase des Versöhnungstheaters: Weil wir so gut erinnert haben, gönnen wir uns jetzt den Wiederaufbau der Berliner Mitte! Es sind nicht zufällig jüdische Stimmen, die das ganz anders sahen. Meinem Essay ist das Gedicht Chor der Tröster von Nelly Sachs vorangestellt. Da gibt es das Bild des Engels, der zwischen den Rändern einer Wunde steht und diese offen hält. Und das geht ins Herz der Frage: Wofür ist Erinnerung eigentlich da? Ich würde sagen: Die Geschichte, die hier stattgefunden hat, dient uns vor allem als Warnung, wie schlimm es werden kann. Und Erinnerungskultur muss dafür da sein, die Gegenwart so einzurichten, dass diese Vergangenheit sich nicht wiederholt.

Wie würde Erinnerungskultur in diesem Fall aussehen?

Erinnerungskultur hieße dann Diskriminierungskritik, Kritik an Nationalismus und sicher auch Umverteilung, oder, wenn man es genauer will: Reparationen. Sie muss aber auch eine Kritik der Denkweisen beinhalten, die den Nationalsozialismus und die Gewalt der Vergangenheit möglich gemacht haben. Und dazu gehört auch eine Kritik ethnischer Homogenitäts- und Dominanzvorstellungen. Stattdessen operieren weite Teile der Gesellschaft, der Politik und Medien einfach weiterhin mit diesen alten Modellen, während sie gleichzeitig überzeugt davon sind, sie hätten erfolgreich aufgearbeitet. Mich erschüttert das. Wir erleben derzeit eine neue Form von staatlichem und gesellschaftlichem Handeln, bei dem man den Kampf gegen Diskriminierung zwar auf symbolischer Ebene beteuert, aber die dafür notwendigen Handlungen gar nicht vollzieht. Das erleben diejenigen, die von Gewalt betroffen sind, natürlich sehr deutlich.

Diese permanenten Ausschlussmechanismen geraten aber zunehmend unter Druck, erzeugen Wut.

Ja, mir scheint, Minderheiten reagieren bewusst oder unbewusst auf diese lächelnde Ignoranz des Versöhnungstheaters. Und ich vermute, dass es zukünftig wieder verstärkt um die Frage von Teilhabe, Umverteilung und der Änderung von Machtverhältnissen gehen wird. Da spielt auch die Klimabewegung eine wichtige Rolle, weil die keine Zeit für symbolischen Quatsch seitens der Politik hat. Die wollen einfach sehen, dass die CO₂-Emissionen runtergehen. Denen ist es egal, ob du noch fünfmal sagst, dass du für Klimaschutz bist. Wenn die Emissionen nicht runtergehen, bist du nicht für Klimaschutz. Ende der Durchsage. Vielleicht müsste man sich auch in der Erinnerungskultur eine Scheibe davon abschneiden und sagen: Wir wollen, dass da wirklich was passiert.

Max Czollek, geb. 1987 in Berlin, hat Politikwissenschaften studiert und am Zentrum für Antisemitismusforschung der TU Berlin promoviert. Er ist Autor mehrerer Essays und Gedichtbände und Mitherausgeber des Magazins Jalta. Positionen zur jüdischen Gegenwart. 2022 kuratierte er die Ausstellung Rache. Geschichte und Fantasie am Jüdischen Museum Frankfurt

Nur für kurze Zeit!

12 Monate lesen, nur 9 bezahlen

Geschrieben von

Freitag-Abo mit dem neuen Roman von Jakob Augstein Jetzt Ihr handsigniertes Exemplar sichern

Print

Erhalten Sie die Printausgabe zum rabattierten Preis inkl. dem Roman „Die Farbe des Feuers“.

Zur Print-Aktion

Digital

Lesen Sie den digitalen Freitag zum Vorteilspreis und entdecken Sie „Die Farbe des Feuers“.

Zur Digital-Aktion

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden