Bei seiner Inszenierung von Dostojewskis Dämonen an der Berliner Volksbühne steckte Regisseur Frank Castorf einst das Ensemble in einen Bungalow und verdonnerte das Publikum dazu, das Geschehen über weite Strecken per Videoübertragung zu verfolgen – und aufgebrachte Kritiker schrieben von einer „Bankrotterklärung an das Theater“.
Ja, so verstört nahm man im Jahr 1999 die Infragestellung traditioneller Sehgewohnheiten im Theater wahr. Niemand konnte ahnen, dass die Theater 20 Jahre später, im Würgegriff einer Pandemie, die Morgenluft der digitalen Möglichkeiten zu schnuppern haben und sich in den Goldrausch eines bisher unbekannten Theater-Streamings werfen.
Bisher sah das Theater sein Alleinstellungsmerkmal ja in der einzigartigen Tatsache, dass es gerade diese wundervolle „Ko-Präsenz“ von Akteuren und Zuschauern sei, die das Erlebnis Theater eigentlich erst hervorbringe. Eine Sphäre, aus der ein jeder potenziell verändert heraustreten konnte. Nicht weniger als die Chance auf eine „Wiederverzauberung der Welt“ warte in diesem Raum, schrieb 2004 die Theaterwissenschaftlerin Erika Fischer-Lichte in ihrem seinerzeit beliebten Expertenhandbuch Ästhetik des Performativen. Und nun das: „Bankrotterklärung an das Theater“ ist heute, wenn man keine digitale Sparte vorzuweisen hat. „Warum fremdelt das Theater immer noch mit der Digitalisierung?“, rollt das Feuilleton jetzt mit den Augen. Plötzlich muss sich diese heilige Kunstform des analogen Zusammenkommens den Vorwurf der Rückständigkeit gefallen lassen.
Der Schock der ersten verordneten Zwangspause hatte im Frühjahr noch zu einem wilden Streaming geführt. Der Sichtbarkeit beraubt, wurden unter der Devise „Zeigen, dass wir da sind!“ Filmchen im guten alten Homevideo-Style als Gratis-Peinlichkeit ins Netz geworfen. Große Häuser mit internationalem Renommee, wie die Schaubühne oder das Berliner Ensemble, mussten da einfach nur in ihr Filmarchiv legendärer Inszenierungen greifen und konnten sich über mehrere zehntausend Zuschauer per Stream freuen.
Gerade dieses Faszinosum neuer Publikumsreichweiten hat innerhalb kurzer Zeit auch dazu geführt, dass die Ausweitung des Theater-Erlebnisses in den digitalen Raum jetzt mit Begeisterung diskutiert und dass eifrig mit digitalen Formaten experimentiert wird. Neue Zuschauergruppen wolle man jetzt erschließen, interaktiver wolle man werden und überhaupt auch mal integrativer sein. In der neuen Online-Publikation Netztheater, die die Theaterplattform nachtkritik.de mit der Heinrich-Böll-Stiftung herausgegeben hat, ist utopisch sogar schon von „1000 neuen Theatern“ im Netz die Rede, und man träumt von „einer Art Netflix für das Theater“.
Das ist vom Anliegen her natürlich alles sehr erfreulich. Doch dass eine muffige Theaterinszenierung trotz hochprofessioneller, technisch versierter Live-Übertragung im Netz eine muffige Theaterinszenierung bleibt, das konnte man kürzlich bei der ersten Live-Streaming-Premiere des Deutschen Theaters in Berlin erleben.
Mehr als nur abfilmen
Gezeigt wurde die Premiere von Thomas Manns Zauberberg unter der Regie von Sebastian Hartmann, so wie sie eigentlich hätte laufen sollen, allerdings verändert für die digitale Übertragung: Dynamische Handkameras filmen das Geschehen auf der gesamten Bühne, es gibt Überblendungen, Unschärfen, Sound- und Bildeffekte, häufige Nahaufnahmen von den SpielerInnen, wenige Totalen, nur einmal nimmt die Kamera, fast ironisch kommentierend, die klassische Zuschauerperspektive aus dem Parkett ein. Der Stream will also eindeutig mehr sein als ein abgefilmter Heidi-Kabel-Theaterabend, er will ein eigenes digitales Kunstwerk darstellen.
Hartmann hat den Roman in fragmentarische Textfelder zerlegt, in denen es um das Rätsel von Raum und Zeit geht und die Frage, wie der Mensch als Körper in diesem „ekelhaften Mischmasch“ seinen Ort finden kann. Unförmige, entstellte, postapokalyptische Gestalten wandeln in Fettkörperanzügen auf der Bühne und keuchen, japsen, schreien oder stöhnen die Texte aus sich raus. Seelenskelette in immer gleicher quälender Situation, die über zwei Stunden verzweifelt fragend mit ihrem Dasein ringen.
Doch was im atmosphärischen Raum des Theaters funktionieren kann, nämlich diese Momente, wenn die Nebelmaschinen angehen, die Drehbühne kreist, der Sound dröhnt und die Schauspieler über die Bühne schreiten, verkommt hier, das ist das bizarre Fazit, zu einem entstellten, oft auch abstoßenden Abbild. Der merkwürdige Theatersprech, den man sich im Theater blödsinnigerweise gern gefallen lässt, wirkt hier nervtötend. Weiblicher Tränenschnodder, der in Nahaufnahme über die Lippe in den Mund rinnt, wird der Lächerlichkeit preisgegeben. Man muss sehr viel Theater-Erinnerung in sich aktivieren, um die nötigen Transferleistungen zu erbringen, diesen anstrengenden Stream durchzuhalten. Vielleicht ist eine gewisse digitale Sexyness, die es für eine Übertragung bräuchte, eine Frage des Geschmacks, der jeweiligen Ästhetik. Die Frage jedenfalls, welche Produktionen in Zukunft für reichweitenstarke Streams ausgewählt werden, wird eine interessante sein. Dass diese Online-Premiere neue Zuschauergruppen generiert hat, ist fraglich. Nur Fans tun sich so was an.
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