Der Fall Robert Menasse führte kürzlich überraschend vor Augen, wie man sich am Thema Europa die Finger verbrennen kann. Gerade weil Menasse Gutes im Sinn gehabt hatte und sich daher auf der moralisch richtigen Seite wähnte, hatte er es, zu Recht oder zu Unrecht, wohl übertrieben mit der Emphase für das europäische Projekt.
Jemand, der es auch regelmäßig gut mit uns meint und dem es an, sagen wir, politischem Sendungsbewusstsein nicht gerade mangelt, ist der Theaterregisseur Falk Richter. I am Europe lautet der selbstbewusste Titel seiner neuen europaweiten Koproduktion, die Mitte Januar am Théâtre National in Straßburg ihre Uraufführung hatte und jetzt Premiere am Thalia Theater in Hamburg hat. Eine durchgehend junge europ
hend junge europäische Besetzung von acht Darstellerinnen und Darstellern, darunter Sänger und Tänzer, hat Falk Richter hier zusammengeführt, um das Wesen Europas zu ergründen, sie kommen unter anderem aus den Niederlanden, Portugal, der Schweiz, Kroatien oder Frankreich.Hochton der BetroffenheitSie alle sind Europa, oder sie wollen es zumindest sein. Denn anhand ihrer persönlichen Biografien, ihrer Partnerschaften, ihrer sexuellen Vorlieben, ihrer Herkünfte und kreativen Tätigkeiten soll ein exemplarisches Europa, eine beispielhafte europäische Bevölkerung kenntlich gemacht werden. Die Bühne ist mit undefinierbarem Kram zugestellt, etwa mit Stahlgerüsten, auf denen Videoprojektionen zu sehen sind; es gibt Schaumstoffquader, auf denen unsicher gestanden werden kann; es gibt einige Pappfelsen sowie den ein oder anderen beblätterten Ast.Was also ist nun Europa? In dem zu einer Art Europa-WG mutierenden Raum wird diese Frage verhandelt. Europa ist, so wird gerufen: „Frontex, sind die alten Frauen, die die Klos putzen, Louis Vuitton, Schiller, Goethe, eine Konstruktion, ein Haus, das zusammenbricht, Verzweiflung. Wut!“Es folgen zur Abwechslung dann biografische Abrisse der einzelnen Darsteller, es wird getanzt und nett mit den blaubehosten Popos gewackelt, auf denen goldene Sternchen prangen; es gibt eine Abba-Einlage, weil ein schwedisches Kulturinstitut Geld für das Projekt gegeben hat, ganz ironisch natürlich. Es gibt die Frage: „Tatjana, was ist eigentlich deine Herkunft?“, woraufhin Tatjana Pessoa, die zufällig die Urenkelin des berühmten Autors Fernando Pessoa ist, sagen darf: „Meine Herkunft ist kompliziert“, woraufhin wiederum alle bedeutungsvoll nicken. Eine Spielerin taucht als Europa in schwarzem Witwenkleid auf und spricht, unterlegt mit unheildröhnendem Sound: „Ich bin Europa und ich habe keinen Halt, ich zerbreche, ich falle auseinander, ich spüre diesen Riss, dieses Reißen, ich werde auseinandergerissen, eine große Unsicherheit, Panik, Hysterie, Hass. Ich bin Europa. Ich weiß nicht, wer ich bin. Angst, überall Angst.“I am Europe setzt alles daran, diese vielfach beschworene Panik, Hysterie und Angst auf der Bühne noch weiter zu befeuern. Hier wird in hämmernden ramponalen Frontalvorträgen alles angeprangert, was einem so grob in den Sinn kommt, wenn man herausschreien möchte, was gerade schiefläuft: Amazon, Plastik im Meer, Klimawandel, Medienhysterie, Fake News, Rechtsruck, Populisten, Tinder, Glyphosat, das Sterben der Fische und so fort. Dazu wird, als sei das alles nicht bekannt, Videobeweismaterial eingespielt – von Merkel, Macron, den Gelbwesten, den schrecklichen Medien, den abschmelzenden Polarkappen. Es werden peitschend Fahnen geschwenkt und angstverzerrte Gesichter gemacht.Ein hoher Ton der Betroffenheit und des Zorns zieht sich durch die gesamte Inszenierung. Und während man dem zunehmend ermattet beiwohnt, während einem der ganze allzu bekannte Mist, der einem medial sowieso schon permanent um die Ohren fliegt, nochmals im Theater anklagend vor die Füße gekippt wird, ploppt plötzlich der Begriff „ästhetischer Populismus“ des Soziologen und ehemaligen Rektors der Ernst-Busch-Schauspielschule Wolfgang Engler in einem auf. Denn I am Europe offenbart mit seiner Aufgebrachtheit einen ganz eigenen Populismus des Abgeschottetseins: in radikaler Selbstbezogenheit kreisen die Darsteller ausschließlich um ihr subjektives Erleben, es werden herablassend klare Schuldzuweisungen ausgeteilt und die eigene Sehnsucht nach einfachen Antworten artikuliert. Damit wird der Abend selbst zu einer „Festung Europa“, die sich für nichts anderes interessiert als für die eigenen Überforderungen und Zumutungen.Kann so ein gut gemeintes Wut-Theater, das sich ausschließlich auf der richtigen Seite wähnt, die Antwort auf die Frage nach der Zukunft sein? Oder wird Theater hier zu einer Selbstvergewisserungsanstalt, in der sich das Publikum allenfalls zu einer Affektgemeinschaft zusammenrottet? Wird es so nicht nur zu einer weiteren Echokammer der eigenen Überzeugungen? Hat Theater nicht die Aufgabe, von Öffnungen, Orten und Möglichkeiten zu erzählen, an denen es noch anderes gibt als das, was ohnehin bekannt ist? Uns mit wirklich Fremdem zu konfrontieren?Placeholder infobox-1
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