Das Theater und sein Publikum: Ein Fall für die Paartherapie

Festival Das Gesprächsthema beim Theatertreffen in Berlin ist in diesem Jahr der Publikumsschwund. Die Frage nach den Ursachen wird von der Branche nicht ehrlich genug gestellt
Ausgabe 20/2022

Fast zeitgleich konnten nach zweijähriger Pandemiepause nun wichtige Festivals und Branchentreffs wieder stattfinden: der Heidelberger Stückemarkt, die Mülheimer Theatertage und allen voran das Berliner Theatertreffen. Doch über der Wiedersehensfreude flog wehklagend das Gespenst umher, das die Theater seit einiger Zeit das Fürchten lehrt: der sogenannte Publikumsschwund. Gemeint ist die Tatsache, dass seit dem Wiedereröffnen der Theater die Zuschauer*innen eher unwillig bis gar nicht zurückkehren, ganze 30 Prozent weniger, schätzt der Deutsche Bühnenverein.

Nun ist man in Fachkreisen erstaunlicherweise um Erklärungen dafür nicht verlegen. Zahlreiche Podiumsdiskussionen auf dem Theatertreffen, etwa zur „Zukunft des Theaters“ (drunter geht’s ja meistens nicht) beten die Ursachen herunter: Da wäre die Pandemie, die das Publikum entwöhnt habe. Netflix habe aus den Menschen Sofakartoffeln gemacht. Wegen der vielen Krankheitsfälle, der deshalb ausgefallenen oder verschobenen Premieren und Vorstellungen sei der Theaterbesuch langfristig kaum planbar, das schrecke viele ab. Und der Krieg in der Ukraine fördere zusätzlich das Zuhause-bleiben-Bedürfnis, das sei ja völlig klar.

Aber ist es das eigentlich alles, ich meine, so „klar“? Die Selbstverständlichkeit, mit der die Theaterbranche dieUrsachen für den Liebesentzug seines (Über)Lebenspartners zu kennen glaubt, verblüfft mich. Hat es das Publikum denn gefragt? Hat es ehrlich nachgehakt: „Hör mal, Liebling, was soll denn das, warum zeigst du mir die kalte Schulter, womit habe ich das verdient, was passt dir denn nicht mehr an mir?“

Theatertreffen 2022: Theater und Publikum müssen sich nach der Corona-Pandemie neu entdecken

Hat es irgendwie nicht. Stattdessen zählt das Theater auf diesen Podien jetzt auf, was es in letzter Zeit alles richtig gemacht hat. Diverser ist es geworden, nachhaltig will es werden (wenn nicht sogar klimaneutral), digital experimentiert hat es (und viel gelernt dabei), Frauen gestärkt hat es, Machtstrukturen aufgebrochen und noch mehr. Das Theater kommt bei dieser Aufzählung ganz außer Atem, so viel hat es sich nämlich vorgenommen.

Fast, hat man den Eindruck, ist das Theater beleidigt, dass diese ganze Anstrengung so gar nicht gewürdigt wird, dass das Publikum nicht sagt: „Ach, wenn das so ist, komme ich natürlich sofort zu dir zurück!“ Außerdem fühlt es sich so an, als werde dem Publikum ein bisschen die Schuld an der Beziehungskrise zugeschoben. Ein wenig rückständig erscheine es, vor allem „in der Fläche“. Vielleicht sei es ihm dann doch alles zu viel, das viele Neue?, fragt das Theater.

Und jetzt antwortet das Publikum vielleicht: „Mir macht es gar nichts aus, dass du jetzt diversere Facetten an dir entdeckst, ganz im Gegenteil, das machst du sowieso schon sehr lange. Dass du gesünder leben willst und dir Gedanken über deine Sprache machst. Ich hätte einfach nur wieder Lust, mit dir abends um die Ecken zu ziehen, von mir aus besoffen, nackt in den Fluss zu springen und dann tollen Sex zu haben. Klischee, ich weiß, ist mir aber egal, denn das ist der Grund, warum ich mich in dich verliebt habe, doch nun langweile ich mich schon lange zu Tode mit dir.“

Spekulationen, aber so könnte es zugehen, wenn man Theater und Publikum zu einer Paartherapie schicken würde. Das rege ich hiermit an: Dass die beiden versuchen, sich nach der Pandemie noch mal neu zu entdecken, sich wirklich kennenzulernen und zu fragen, was wollen wir eigentlich mit- und voneinander? Sonst heißt es dann tatsächlich: „I love you but I’ve chosen Netflix.“

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