Im Grunde ist es nur eine einzige Frage, in der an diesem durchweg schmerzhaft anzusehenden Theaterabend einmal kurz so etwas wie Wahrhaftigkeit aufscheint. Da holt Fabian Hinrichs tief Luft, sammelt scheinbar seine letzten Kräfte und schreit: „Was suchen wir?“
Was er – sonst als Schauspieler bekannt – in seiner ersten Regiearbeit jedoch selbst sucht, warum um alles in der Welt er dafür das vielleicht nicht umsonst vergessene Stück Sardanapal gewählt hat, uraufgeführt 1834, geschrieben vom Dichterdandy Ich-hab-einst-in-Venedig-mit-zweihundert-Frauen-geschlafen-Lord Byron: Das wird bei der Betrachtung des Abends zur schreienden Gegenfrage.
So wird diesem überambitionierten Projekt mit fast hundert Beteiligten (darunter Tänzer*innen de
unter Tänzer*innen der Flying Steps Academy und das Jugendsinfonieorchester Berlin am Georg-Friedrich-Händel-Gymnasium) weniger zum Verhängnis, dass der Schauspieler Benny Claessens das Projekt drei Tage vor der Premiere verließ. Es soll zwischen ihm und Hinrichs zu einem „Eklat“ gekommen sein, sodass Hinrichs die Titelrolle selbst übernahm. Auch nicht, dass dieser Abgang das gesamte Team enorm viel Kraft gekostet haben muss. Noch nie war ausgerechnet Fabian Hinrichs so völlig entkräftet und emotional entkernt auf der Bühne zu sehen wie bei seiner eigenen Regiepremiere. Es tat auch weh, das zu sehen. Aber nein, das Problem ist grundlegend.Absturz in die PeinlichkeitAls würde er einen langen Anlauf brauchen, geht der Abend ewig nicht richtig los. Erst mal werden viele Zitate auf den eisernen Vorhang projiziert, eine Art Theatertheorie-Ouvertüre: „Als Gott Himmel und Erde erschuf, spielte ich auf dem weiten Rund der Erde.“ Hölderlins Hyperion. Barry Whites Let the music play. Fabian Hinrichs tanzt dazu im schicken Anzug – „just until this misery is gone“ – wie ein Bankangestellter auf der Suche nach Freiheit. Er singt am Klavier, nass wie ein begossener Pudel, Schuberts Ode An die Musik. Dann plötzlich eine Supermarktszene, in der Lilith Stangenberg als apathische Kassiererin von Hinrichs gefragt wird, woran sie denn eigentlich so denke, sie wirke so abwesend? Sie beginnt – im Hintergrund dudelt DJ Bobos What is love? – hellen Sand herumzustreuen, sich darin zu wälzen, sie übergießt sich mit Wasser aus einer Plastikflasche und träumt sich als Göttin an den Strand von Kreta: „Ich stelle mich nicht beim Rewe an, nein, ich bin Aphrodite!“Die Gedanken hinter diesen Szenen sind schon irgendwie klar: Wo ist in unserer banalen, auf stumpfe Versorgung reduzierten Konsumwelt die Poesie, die Schönheit, die Sinnlichkeit abgeblieben? Wo können wir hin mit unseren Sehnsüchten und Träumen? Doch gerade die Durchschaubarkeit dieser Konstruktionen lassen sie selbst in Banalität, ja, in Peinlichkeit abstürzen. Und das kann sich, Entschuldigung, auch wirklich nur ein Mann ausdenken, dass es der erste Traum einer Supermarktkassiererin ist, sich nackig am Meer zu wälzen.So reihen sich völlig verquer anmutende szenische Vehikel aneinander, die uns aus unserem Alltag in die ach damals noch so herrlich poetisch verfasste Welt eines Sardanapal entführen möchten.Quasireligiöse Kunsttempel-ErfahrungDiese tritt nach diesem ganzen Vorlauf mal als bunte, mal als kämpferische oder auch als sinnliche Tanzchoreografie in Erscheinung. Es wird in Badezubern gebadet. Vorhänge werden kunstvoll gerafft und fallen aus dem Bühnenhimmel. Die Kostüme wechseln in sinnliche, „orientalische“ Gewänder und es wird, offenbar ungebrochen ernst gemeint, die Geschichte des Kunst-Königs Sardanapal erzählt, der sich selbst im reinen Genuss zu leben befahl und es mit seinem Dasein im reinen Ästhetizismus so aufrichtig stur meinte, dass er sich schlussendlich auf seinem Thron lieber abfackeln ließ, als sich mit der schnöden politischen Realität abzugeben, nämlich den Verrätern um ihn, die ihm an die Existenz wollten.Aber kann das wirklich sein? Will Fabian Hinrichs hier im Ernst ein Kunstangebot machen, das sich auszeichnet durch eine Abkehr von der Welt? Ein Vergessen der Gegenwart? Das ungebrochene Pathos jedenfalls, mit dem Hinrichs und Stangenberg am Ende mit Fackeln ausgestattet von einer Treppe in die digital lodernden Flammen springen, schockt in seiner Blindheit für die eigenen Mittel, die wahllos bedient werden. Die Szene bildet den entsetzlichen Höhepunkt eines Abends, der immer schlimmer wird, weil er sich so ungefähr an allem vergreift, was ihm in dem Anspruch an eine quasireligiöse Kunsttempel-Erfahrung so in den Sinn gekommen ist. Die Idee: Man zitiert Paul Celan und ABBA, Hölderlin und DJ Bobo, vermengt Saporischschja und Sardanapal und das Kunstereignis wird sich schon irgendwie einstellen. Doch die Konstellationen und Fallhöhen – ein Gedicht Celans und die Aussage, wenn es hart auf hart kommt, lasse ich mich für die Kunst am liebsten verbrennen – sind völlig unbegreiflich.In dieser sehr deutschen Rührschüssel-Ästhetik liegt etwas zutiefst Beunruhigendes. Wenn man sich schon auf den Horror der Gegenwart bezieht, auf den Krieg und die sich erwärmende Welt, und wenn man die Frage stellt, wie Kunst daraus einen gedanklichen Ausweg oder eine Perspektive bieten kann – verbietet es sich da nicht, ausgerechnet die inhaltliche Position eines männlichen, adligen, sehr reichen und dekadenten Autors zu beziehen, den die Welt als solche einfach nichts angehen wollte? Was hat das für das Theater in diesem Moment zu bedeuten?