Alles für die lieben Kleinen

Kinder Früher galten Kinderläden als Vorposten der gesellschaftlichen Veränderung. Heute ziehen viele Eltern sie aus ganz pragmatischen Gründen staatlichen Kitas vor

Die Trennung von der Mama ist heute Morgen nicht das Problem. Der zweijährige Noah hat keine Lust, sich von seiner Stoffpuppe zu trennen. Eigentlich sollen eigene Spielsachen in dieser Kita zu Hause bleiben, aber der Erzieherin Birgit fällt ein Kompromiss ein, mit dem alle leben können: Die Puppe bleibt im Regal für Mützen und Handschuhe sitzen und darf wieder zu Noah, wenn es später Zeit zum Schlafen ist.

Noahs Mama, Patricia Klein, 35 Jahre alt, schätzt am Kinderladen Rosenthaler Vorstadt das „Unkonventionelle, Freiere“. Außerdem trennt sich nicht nur Noah schwer, sondern auch sie selbst: „Ich finde es nicht leicht, ihn abzugeben. Hier hat man wenigstens einen größeren Einfluss darauf, was mit ihm passiert.“ In einer staatlichen Kita wäre erstens der Personalschlüssel nicht so gut wie in dem familiären Kinderladen am Arkona-Platz in Berlin, und außerdem gäbe es viel weniger Gestaltungsmöglichkeiten für die Eltern.

Man diskutiert das Feintuning

Hier treffen sich Eltern und Erzieher regelmäßig zu Gesprächen über die Entwicklung des Kindes; das pädagogische Feintuning wird diskutiert. Die Erzieher lassen ihre Montessori-Ausbildung einfließen, einmal die Woche geht es in den Wald – und zwar bei jedem Wetter. Wegen des Kinderladens ist Patricia Klein extra in die Nähe gezogen, auch wenn sie den Kiez nicht nur positiv sieht: „Die Gegend ist unglaublich entmischt.“

Seit die Mieten kontinuierlich nach oben klettern, haben junge und nicht mehr ganz junge Akademikerfamilien die Alteingesessenen fast vollständig verdrängt. Ohne einen Wohnberechtigungsschein könnte sich die alleinerziehende Studentin Klein ihre Wohnung hier gar nicht leisten. Im Kinderladen ist das Klientel sogar noch einen Tick homogener als auf der Straße davor. Weil Eltern und Erzieher eng zusammen arbeiten, will man natürlich, dass Neuzugänge gut ins soziale Gefüge passen – sprich: einem ähnlich sind. Zwar gab es in den Anfangsjahren des Kinderladens auch kontroverse Diskussionen; etwa darüber, ob thematische Projekte die Kreativität der Kleinen eher fördern oder einengen. Doch in den letzten Jahren, berichtet Patricia Klein, laufe alles in wohlgefügten Bahnen. „Heftige Diskussionen über Kleinigkeiten“ gebe es kaum noch. Warum auch? Man teilt ja die selben Werte und Vorstellungen.

Dass die Eltern sich aus dem operativen Geschäft zunehmend zurückziehen, dass sie nicht mehr bei allem mitreden wollen, beobachtet man auch beim „Dachverband Berliner Kinder- und Schülerläden“. Diskutieren ist nicht obligatorisch, anpacken aber schon. Im Kinderladen Rosenthaler Vorstadt hilft jeden Tag ein Elternteil beim Aufräumen, dazu kommen Arbeitseinsätze wenn Projekte und Aktionen anstehen.

Auch bei den „Wilden Knallerbsen“ im Berliner Stadtteil Köpenick hängt eine Liste mit den Rubriken „zu erledigen / Zeitraum / Familie“ an der Pinnwand, gleich neben dem Infoblatt „Wenn Kinder beißen...“, auf dem jemand handschriftlich vermerkt hat „gilt auch für hauen“. Auch die „Knallerbsen“ sind ein Verein und werden privat geführt, aber trotzdem ist hier vieles anders. Die Kita, die erst im letzten Jahr ihre Türen öffnete, ging nicht aus einem Zusammenschluss von Eltern hervor, sondern wurde von zwei Freundinnen gegründet, die einfach Lust hatten, „was zu erschaffen“. Nicole Hausmann, eine junge Frau mit blonder Kurzhaarfrisur, kurzen Hosen und Stulpen, arbeitete in der Heimerziehung; ihre Mitstreiterin Katja Schleuper, die ganz ähnlich aussieht, nur dass ihr Pony rotgefärbt ist, leitete einen Friseursalon. Die beiden arbeiten ehrenamtlich, dazu kommen zwei angestellte Erzieherinnen, zwei Praktikantinnen und eine Köchin.

Das Kita-Konzept beruft sich auf Montessori und Kneipp – was heißt, dass die Kinder einmal am Tag mit nackten Füßchen durch Wasserschüsseln planschen, und ansonsten praktisch immer im Garten sind, auch zum Schlafen. Weil Haus und Garten im Umbau begriffen sind, stehen die Reisebettchen unter einem Bierzelt. Vieles ist bisher noch improvisiert – auch der pädagogische Alltag. Vielleicht ist die Tatsache, dass Barbies und Ausmalen in einer Montessori-Kita kein Tabu sind, aber auch ein Anzeichen dafür, wie unideologisch Fragen der Erziehung auf einem Markt geworden sind, auf dem sich viele Eltern um die wenigen zur Verfügung stehenden Plätze für ihren Nachwuchs rangeln.

Keine Glaubensfrage mehr

Für die meisten ist es keine Glaubensfrage mehr, ob der Kleine in den Kinderladen, zur Tagesmutter, in eine private, konfessionelle oder staatliche Kita soll. Luka ist nicht deshalb heute mit seinem Vater zur Eingewöhnung hier, weil der Kneipp oder Montessori so toll findet, sondern weil hier eben noch was frei war. Und die Mutter von Thorben hat sich nach ein paar Eingewöhnungstagen bei den „Knallerbsen“ doch lieber entschieden, ihren Sohn zu einer Tagesmutter zu geben, weil sie die Gruppe zu groß und Thorben noch zu klein fand, um sich zwischen den älteren Rabauken zu behaupten.

Dramatisch unterscheiden sich die pädagogischen Konzepte nicht mehr. Das Bekenntnis zum „situativen Ansatz“ fehlt heute auf kaum einer Kita-Website. Zum Glück, muss man sagen, denn der pädagogische Begriff bezeichnet ein Verhalten, das jeder Erwachsene, der Kinder mag, im Normalfall intuitiv an den Tag legen sollte: Nämlich das aufzugreifen, womit das Kind sich von allein beschäftigt, oder wofür es Interesse bekundet. Im Alltag heißt das etwa, dass nicht dann über Insekten gesprochen wird, wenn ein imaginärer Lehrplan es vorgibt, sondern wenn die Kleinen mit einer toten Fliege ankommen.

Bei den „Wilden Knallerbsen“ gibt es heute Pfannkuchen, und als Dee Jay (der wirklich so heißt, und dessen Vater, ja, wirklich!, als DJ arbeitet) begeistert feststellt, dass da ja Marmelade drin ist, nimmt Erzieherin Hausmann das zum Anlass, ihn an die Eigenarten deutscher Backtradition heranzuführen: „Manche Pfannkuchen haben auch Pflaumenmus drin.“

Bei den Knallerbsen will man die Betreuung noch ausbauen: Sobald die oberen Stockwerke im Haus fertig renoviert sind, sollen die Kinder hier auch über Nacht bleiben können. Ein Angebot für Eltern, die beruflich verreisen müssen oder im Schichtdienst arbeiten. Auch die privaten Kitas haben bisher immer noch recht starre Bring- und Abholzeiten, spätestens um 18 Uhr ist Schluss.

24-Stunden-Betreuung

Wenn man bedenkt, dass die Zahl der Alleinerziehenden steigt, während Kinder, die mit Oma und Opa unter einem Dach wohnen, nicht nur in Berlin die Ausnahme sind – dann verwundert es, dass 24-Stunden-Angebote nicht mit derselben Geschwindigkeit aus dem Boden sprießen wie normale Kinderläden. Der Bedarf ist jedenfalls da. Hausmann berichtet von einem alleinerziehenden Vater, der am Flughafen Schöneberg im Schichtdienst arbeitet und für seine kleine Tochter ständig einen teuren Babysitter engagieren muss. Ihr jüngster Sohn Aydn hat es da besser: Er begleitet seine Mama zur Arbeit, auch wenn er, gerade mal sechs Monate alt, noch zu klein für die Gruppe ist.

Auf Kinder eingehen, Kinder ernst nehmen, Kinder nicht in Korsetts pressen – das wird heute wohl in den meisten Kitas praktiziert, nicht nur in Kinderläden. Das Wort beschwört nur noch ganz von Ferne das Bild nackter Kinder, die sich in Farbe und Dreck suhlen. Das Bild hat ohnehin den Kern der Bewegung nie so recht getroffen, wurden die ersten Berliner Kinderläden 1968 doch vor allem deshalb ins Leben gerufen, um die Frauen zu befreien, und nicht die Kinder. Durch die Kinderläden erkämpften die Mütter sich ein paar Stunden, in denen sie sich im gleichen Maße wie ihre männlichen Kollegen der Politik oder der Revolution widmen wollten.

Ursula von der Leyens Vorstoß für einen Ausbau der Krippenplätze wäre nicht denkbar gewesen ohne diese Pionierarbeit. Dummerweise konterkariert die Bundesregierung die Fortschritte seitdem mit einem Instrument, das ideologisch in die fünfziger Jahre gehört. Es heißt Betreuungsgeld.

In Westdeutschland gab es vor allem aus konservativen Kreisen lange Widerstand gegen die Kleinkindbetreuung in Kinderkrippen und privat organisierten Kinderläden. Während die DDR ein dichtes Netz von staatlichen Kinderkrippen hatte, orientierte man sich im Westen bei der Messung des Bedarfs an Notsituationen, also an der Anzahl jener Kinder, die unter keinen Umständen von ihren Eltern daheim betreut werden konnten. Mütter, die ihre Kinder vor dem Kindergartenalter tagsüber betreuen ließen, wurden oft als Rabenmütter bezeichnet. Im Zuge der 68er-Bewegung entstand dann die Kinderladenbewegung. 1967 eröffnete der erste Kinderladen in Frankfurt am Main: die Freie Kinderschule. Die Diskussion um die in Kinderläden praktizierte antiautoritäre Erziehung entbrannte ein Jahr
später, als vor allem in Berlin, aber auch in Stuttgart und Hamburg Kinderläden aufmachten. Die Gründung der Berliner Kinderläden organisierte der Aktionsrat zur Befreiung der Frau. Daher verstand sich die Kinderladenbewegung als Teil einer gesamtgesellschaftlichen Protestbewegung. Heute sind Kinderkrippen und Kinderläden zumindest für Teile der CDU auch kein Teufelszeug mehr. Auf dem Krippegipfel im April 2007 setzte die damalige Familienministerin Ursula von der Leyen eine Einigung zwischen Bund und Ländern durch, dass bis zum Jahr 2013 für jedes dritte Kind unter drei Jahren ein Betreuungsangebot geschaffen werden soll. Laut einer aktuellen Modellrechnung ist man aber noch weit von diesem Ziel entfernt. Es fehlen noch 275.000 Plätze. Studien zeigen, dass mehr Krippen-Kinder später den Sprung aufs Gymnasium schaffen als Nicht-Krippenkinder. Vor allem Kinder aus sozial benachteiligten Familien profitieren von einem Krippenbesuch. jap

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