Flüchtling für eine Nacht

Grenzsimulation In dem mexikanischen Dorf El Alberto können Touristen den illegalen ­Grenzübertritt in die USA nachspielen. Manche sehnen sich dann nach den Pick-Ups der Grenzwächter

"Los, runter in den Graben!“ Wir stolpern eine Böschung hinab, kauern unter stacheligen Zweigen im Schlamm. Anschwellendes Sirenengeheul. Auf der Straße nähern sich die Pick-Ups der Border Patrol. Scheinwerfer tasten das Gebüsch ab. Ein Megafon knackt. „We know you are there. Go back to your country. It’s very dangerous here.“ Die Stimme hat einen harten, spanischen Akzent. Sie gehört keinem US-Grenzer, sondern einem mexikanischen Dorfbewohner, der heute Nacht einen Grenzer spielt.

„Toll“, flüstert Gustavo. „Sehr realistisch! Ich hab noch mehr Schlamm abgekriegt als beim letzten Mal.“ Gustavo ist schon zum zweiten Mal dabei. Er arbeitet als Systemadministrator im vier Autostunden entfernten Mexiko City, und würde nie im Leben heimlich über die reale Grenze. „Wenn ich in die USA möchte, geh ich ins Reisebüro und kauf mir ein Ticket“. So geht es den meisten der rund 50 Teilnehmer, die sich hier versammelt haben, um an der fingierten Grenzüberquerung teilzunehmen. Es sind Touristen aus der Hauptstadt, die übers Wochenende gekommen sind. Die simulierte Grenzüberquerung ist im Preis für den Campingplatz inbegriffen.

Plötzlich knallen Schüsse, es stinkt nach Platzpatronen. Auf der Straße liegt ein regloser Körper. Die Schlepper treiben uns weiter. „Rapido, rapido!“

El Alberto liegt in den Bergen von Hidalgo, einem der ärmsten Bundesstaaten Mexikos. Arbeit gibt es hier nicht, nur ein paar Felder, Granatapfelbäume und alte Frauen, die Schwämme aus Kaktusgarn für den Body Shop klöppeln. Die einzige asphaltierte Straße wird von Bauruinen gesäumt. Mit dem Geld, das die Verwandten aus den USA schicken, bauen die Familien ihre Häuschen. Sobald der Geldstrom stockt, stockt auch der Bau, und die Häuschen verfallen, bevor sie fertig sind. Bis in die achtziger Jahre, als es hier losging mit der Migration, war die Kirche das einzige Gebäude aus Stein, erbaut von den spanischen Kolonisatoren. Der Rest waren Bambushütten, und von der Existenz der USA, des reichen Landes im Norden, erfuhren die Bewohner erst, als der Erste von dort zurückkehrte, die Taschen voller Dollars.

Früher konnte man einfach rüberlaufen

Damals muss es verhältnismäßig leicht gewesen sein, über die Grenze zu kommen. „Bei Nogales lief man einfach rüber“, erzählt Jesus, dessen gesamte Familie in Las Vegas lebt. „So lange, bis man zu einem McDonalds kam.“ Doch mit den Jahren nahmen die Grenzpatrouillen zu. Die Leute wurden zu Umwegen gezwungen, waren wochenlang unterwegs, verirrten sich, starben an Durst. El Alberto war unterdessen zum Geisterdorf geworden. Im Jahr 2004 beschloss die Dorfversammlung, dass Schluss sein sollte mit der Migration. Arbeitsplätze vor Ort müssten her. Poncho hatte die Idee, das zum Geschäft zu machen, worin sie alle Profis waren: Grenzüberquerung.

Poncho, der vielleicht anders heißt, trägt eine scharze Strumpfmaske über dem Gesicht, nicht nur nachts, wenn er den Schlepper spielt, sondern auch in der Nachmittagshitze. Ein Tribut an die echten Flüchtlinge sei das, erklärt er. Die müssten sich auch einem Fremden anvertrauen, jemandem, dessen Gesicht sie nicht kennen. Außerdem werde er von der Polizei gesucht, die ihm eine Entführung anhängen wolle.

„Wir wollen unseren Landsleuten zeigen, wie an der Grenze gelitten wird“, sagt Poncho. „Damit sie hierbleiben.“ Poncho ist nicht nur der Ideengeber, er liefert auch den ideellen Überbau zu der Veranstaltung. Die makabre Nachtwanderung will er als subversive Aktion verstanden wissen, die in der Tradition des Kampfes gegen die Conquista steht, die spanischen Eroberer. Er klingt wie ein Philosophiestudent, wenn er über die Pflicht zur Revolte, die Unausweichlichkeit der Existenz, die menschlichen Abgründe und das Erwachen seines Volkes spricht – und bezeichnet sich selbst doch als Analphabeten.

Jede Nacht, bevor der Menschenpulk zur Nachtwanderung aufbricht, hält er eine flammende Rede. Die Touristen müssen sich an den Händen fassen. „Warum nennen wir die USA ‚die andere Seite’?“, fragt er und gibt selbst die Antwort: „Weil unser Körper dort ist, doch unser Geist ist hier. Diese Trennung muss aufhören. Wir müssen unsere Probleme hier in Mexiko lösen.“ Seine Helfer entfalten eine mexikanische Flagge.

„Seid ihr stolz, Mexikaner zu sein?“

„Ja!“ Die Touristen brüllen sich die Lunge aus dem Leib.

„Dann denkt daran: So wie jemand singt, so hat er auch Sex. Also macht euch keine Schande. Singt so laut wie ein Orgasmus!“

Die mexikanische Nationalhymne hat sehr viele Strophen, aber Poncho schafft es, bei jeder Strophe noch etwas mehr aufzudrehen.

Die Nachtwanderung ist Teil des Erlebnistourismus, den die Bewohner hier ausbauen wollen, um irgendwann davon leben zu können. Es gibt ein Schwimmbad, Bootstouren und Funsport: Man kann sich von einer Felswand abseilen lassen und an einem Drahtseil übers Canyon schweben. Aber noch verdient hier keiner Geld. Die Arbeit im Freizeitpark ist eine Art Sozialdienst, den jeder Dorfbewohner alle paar Jahre ableisten muss. Erst wenn der Laden brummt, sollen richtige Arbeitsplätze entstehen. Bis dahin werden alle Einkünfte reinvestiert. Und wer bei der Nachtwanderung für die Touristen Schlepper oder Grenzer spielt, wird bald wieder an der echten Grenze sein Leben aufs Spiel setzen, um dorthin zu gelangen, wo für Arbeit gezahlt wird. Ihre Landsleute wollen sie abschrecken, und müssen doch selbst genau das weiter tun, wovor sie warnen.

Jeder macht hier eine Grenzerfahrung

Natürlich kommt keine Simulation der Welt an die Realität heran, das wissen auch die Touristen. Aber eine Grenzerfahrung macht hier jeder, und zwar eine körperliche. Fünf Stunden lang geht es durch die Wildnis, durch enge Betontunnel, über schmale Mauerreste, unter denen ein Bergbach tobt. Die Hänge sind so steil, dass es bergauf nur auf allen vieren geht und bergab nur auf dem Hosenboden. Und alles passiert in unglaublicher Eile. „Wir helfen den Leuten, die nicht weiter können oder sich verletzen,“ erklärt Poncho. „An der echten Grenze bleiben die einfach liegen.“ Wer hier die Gruppe verliert, hat keine Chance, allein ins Camp zurückzufinden. Schon nach wenigen Kilometern ist auch der letzte Rest Orientierung dahin. Am Fuß der Berge warnen Schilder davor, sich ohne Führer ins Gelände zu begeben. Aber es ist so finster, dass man die Schilder nicht lesen kann, Taschenlampen sind verboten.

Eine dicke Frau lässt sich einfach fallen und japst: „Übergebt mich den Grenzern. Die haben wenigstens Pick-Ups“. Die Umstehenden lachen. Eine seltsame Mischung aus Ernst und Albernheit liegt in der Luft. Irgendwann erreichen wir die Straße, der Traum der Dicken geht in Erfüllung. Wir klettern auf Pick-Ups, die uns zurück zum Campingplatz am Flussufer bringen. An den Hängen ringsum lodern viele hundert Fackeln, von unermüdlichen Helfern entzündet, während wir durch die Wildnis gestolpert sind. Einen Moment lang glaubt man, im Lichtermeer den Schriftzug USA zu erkennen. Aber das muss eine Täuschung gewesen sein.

Einen TV-Beitrag unserer Autorin zum selben Thema zeigt der MDR am 18. 10. um 16.05 Uhr in der Sendung Windrose.

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