Die Totschlägergrafik der Klimawandelleugner

Was fehlt? Ein halbes Jahrhundert. Klimawandel-Verwirrung mit einer alten Zeichnung. Rosinenpicken mit 1960er-Daten aus Nordgrönland.

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„Wir müssen uns die Jugend wieder zurückholen und mit Fakten versorgen“ – ein AfD-Satz den man sich auf der Zunge zergehen lassen muss. Zurück? Wir? Uns? Fakten? Will da jemand etwas wiederhaben, was ihm schon mal gehörte? Der Europawahlkampf hat begonnen.

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Abb. Immer neue Varianten einer Grafik auf Grundlage von Daten aus den 1960-Jahren aus Thule, Grönland, US-Basis Camp Century

Es war der ehemalige Volkspolizist aus Hoyerswerda, MdB Karsten Hilse, den die Leipziger Volkszeitung mit diesem markigen Satz zitierte und der offenbar seine rechten Felle davon schwimmen sieht, nun da Politikwissenschaftler prophezeien, dass die Schulstreik-Bewegung die 68er-Bewegung noch in den Schatten stellen wird. Wie er das „Zurückholen“ anstellen wollte, lässt sich auf einem von ihm veröffentlichten Kurzvideo bestaunen. Am 15. März, dem Tag des weltweit größten Klimastreiks, defiliert er mit einem Packen Flugblätter schnurstracks in den Berliner Demozug. Luisa Neubauer, in der ersten Reihe der FridaysforFuture Bewegung, schaut kurz drauf und verzieht das Gesicht als wäre sie in etwas Unangenehmes getreten. Sofort durchschaut, ohne dass ein Impressum draufstand.

Die „Versorgung mit Fakten“ dürfte sein Büromitarbeiter bewerkstelligt haben: Michael Limburg, der Vizepräsident der Klimaleugner-Organisation EIKE. Das AfD-Quiz schaffte es bald zu großer Bekanntheit – nur nicht so, wie das energiepolitische Ex-Fotomodell Hilse - respektive die graue Eminenz im Hintergrund - sich das ausgemalt haben mag. Klimawissenschaftler Prof. Stefan Rahmstorf hat das Quiz in seinem Blogbeitrag Das Schüler-Klimaquiz der AfD: die Auflösung für Unterstufenschüler verständlich, richtig gestellt, denn “leider ist der AfD bei der Auflösung am Ende so einiges durcheinander geraten“.

In seiner Replik turnt Hilse - bzw. sein Manuskriptschreiber - beschwingt durch die Argumentationsstandards der von Big-Oil finanzierten Thinktanks und versteigt sich zu der ebenso nassforschen wie wahrheitswidrigen Behauptung: „Potsdamer Institut für Klimafolgenforschung bestätigt Fakten des AfD-Klima-QUIZ!

Besonders angetan hat es den Klimawandelleugnern eine Abbildung, auf der eine geschwungene Linie mit vier Buckeln die Ergebnisse tausender wissenschaftlicher Arbeiten zur Erderwärmung hinwegfegen soll. „Ich gebe zu: ich wusste vorher, dass Sie diese Grafik bringen würden“ schrieb Rahmstorf im Anblick des grafisch grüßenden Murmeltiers. Diese Abbildung soll belegen, dass es vier Warmzeiten gegeben habe, zu denen die Erde noch wärmer war als heute. Soviel vorab: das stimmt noch nicht einmal für den Ort Thule in Nordgrönland, dort wo die Datenreihe aus einem einzigen Eisbohrkern in den 1960-er Jahren gewonnen wurden; zu einer Zeit also, da der Mittfünfziger Hilse noch in den volkseigenen Windeln lag. Aber aus diesen arktischen Daten Schlussfolgerungen für das globale Klima ableiten zu wollen, dessen Änderungen an zig Mess-Orten über den gesamten Globus verteilt zusammengerechnet wird, ist nicht wissenschaftlich, sondern allenfalls sportlich.

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Hinzu kommt, dass die Daten des letzten halben Jahrhunderts in der Totschläger-Grafik der Klimawandelleugner fehlen. Seit den 1960-ern hat sich viel getan. Auch in Grönland. In Thule sind die Temperaturen um 1,5 °C gestiegen. Es gehört schon eine gewisse Portion wissenschaftlicher Unbefangenheit dazu, die Brisanz einer Entwicklung der letzten 150 Jahre mit „Beweismaterial“ zu relativieren, bei dem ausgerechnet das letzte, das dramatischste Drittel fehlt.

Ich möchte Ihnen gerne erklären, woher die Grafik stammt: aus einem 24 Jahre alten Buch für Studenten (Schönwiese 1995)“, so Rahmstorf. Der Buch-Autor ist Prof. Christian Dietrich Schönwiese, ein emeritierter Klimatologe mit Spezialgebiet klimatische Extrem-Ereignisse. Er gehört zu den über 97 % der Wissenschaftler, die sagen, dass der größte Anteil am Klimawandel vom Menschen verursacht wird. Seine als Totschlägergrafik benutzte Freihandskizze taucht auch im Buch der Ex-RWE-Manager Fritz Vahrenholt und Sebastian Lüning „die kalte Sonne“ auf. Über sie schreibt Schönwiese: “Die Autoren meinen, ohne selbst Klimatologen zu sein, ein abwertendes Urteil über das IPCC und somit die gesamte Klimawissenschaft fällen zu müssen und merken dabei offenbar nicht, wie sehr sie selbst irren.

Herr Schönwiese hat seinerzeit eine schematische Kurve von Hand skizziert“ schreibt Klimaforscher Rahmstorf an den AFD-Politiker. Wie es sich für einen Wissenschaftler gehört, schaut Rahmstorf sich auch die Rohdaten an: “Ich habe speziell für Sie hier die Datenkurve aus der Originalpublikation von Dansgaard über die Schönwiese-Grafik gelegt“. Als Schönwiese das Buch schrieb, in den 1990ern - Hilse hatte bereits seine Vopo-Uniform gegen eine Polizei-Uniform getauscht - war die Datenlage noch recht dünn; Die Paläoklimaforschung war erst in den Anfängen und es gab nur von ganz wenigen Punkten der Erde Klimadaten über das Holozän. Rahmstorfs Freund und Kollege Schönwiese hatte also schlicht nicht die Möglichkeit, den Verlauf der globalen (!) Mitteltemperatur darzustellen. Heute, ein Vierteljahrhundert später, mit einem gewaltigen Datenfundus, den Heerscharen von Klima-Forscherinnen und Forschern mit neuen und weiterentwickelten Methoden aus Eis- und Sedimentbohrkernen zusammengetragen haben, wird das Bild im Puzzle immer deutlicher. Die Klimawandel-Verwirrer haben sich also eine veraltete Kurve herausgepickt – oder, um im Bild zu bleiben, ein einziges Teil des Mehrtausend-Teile Puzzles – das ins eigene Weltbild passt, um damit Zweifel zu säen.

Die Grafik in Rosé und Bleu, bei der man mit der Beschriftung in den einschlägigen Klimaleugner-Medien nie so recht erkennt, welches Jahr denn in etwa „heute“ oder der Zeitpunkt „Null“ sein soll, wird vollends entzaubert, sobald man die fehlenden Daten des vergangenen halben Jahrhunderts noch dazu fügt. Selbst an diesem Ort in Grönland sind die Temperaturen heute weit höher als jemals im gesamten Holozän. „Erstens ist die Kurve also nicht global, und zweitens ist es auch dort vor Ort heute am wärmsten seit mindestens 100.000 Jahren. Damit erweist sich Ihr angeblicher Beleg für die behaupteten „vier Warmzeiten in denen es teilweise mehrere Grad wärmer war als heute“ als falsch.“ schließt Rahmstorf.

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Abb.: Das ganze Holozän Eine Forschergruppe von den Harvard und Oregon State Universitäten hat in Science die erste globale Temperaturrekonstruktion für die vergangenen 11,000 Jahre publiziert.

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