Flamanville: Protest-Flut trotz großer Hürden

EPR - Bürger*innen überziehen Französische Atomaufsicht mit Protestschreiben gegen Inbetriebnahme des EPR Flamanville

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Vorurteile sind dafür da, über den Haufen geworfen zu werden. Unsere Nachbarn bieten uns gerade eine gute Gelegenheit, Vorgekautes eben nicht wiederzukäuen. „Die Franzosen“ – so heißt es oft - hätten ein entspannteres Verhältnis zur Atomkraft als die Deutschen. Wirklich? Wer erleben möchte, mit welchem Engagement „die Franzosen“ ihrer Atomaufsicht ASN aufs Dach steigen, kann sich auf der website der Behörde für nukleare Sicherheit, Autorité de sûreté nucléaire, selbst davon überzeugen, dass es seit einem Monat Einsprüche quasi im Minutentakt hagelt, gegen die Inbetriebnahme des neuen AKW am Ärmelkanal, dem EPR in Flamanville. Das Herzstück, der Druckbehälter, ist brüchig. Er wurde aus Fehlschmieden aus der skandalumwitterten Großschmiede Areva Creusot Forge fabriziert. Für eine durchaus mögliche, Bruch-induzierte Nuklearkatastrophe hat die ASN keinen Krisen-Managementplan, so erklärte der Atomexperte Yves Marignac dem völlig entsetzten BFMTV-Reporter Jean-Jacques Bourdin Ende Juni. Marignac ist Mitglied der Nuklearexpertengruppe "GPESPN" und vertrat hier gemeinsam mit einem Kollegen die Minoritäts-Position, dass der Reaktorstahl nicht über ausreichende Sicherheitsmargen verfügt. Wenn es also kracht wird unter dem großen Erstaunen aller Beteiligten eine Improvisations-Maschine in Gang gesetzt, während sich z.B. bei Westwind die Wolke in Richtung Paris, Mannheim, Heidelberg und Karlsruhe aufmacht, bei Südwestwind wird es die Benelux-Staaten und Nordrhein-Westfalen mehr erwischen.

ASN berücksichtigt auch Einsprüche aus Nachbarländern

Alle potenziell Betroffenen sind berechtigt, Einwände zu erheben. Auf Anfrage der atompolitischen Sprecherin der Grünen, Sylvia Kotting-Uhl, hat die ASN bestätigt, dass nicht nur französische sondern auch englischsprachige Beschwerden berücksichtigt werden.
Greenpeace Frankreich hat eine kleine Anleitung auf seiner website eingestellt, wie die elektronischen Hürden zu überwinden sind. Darüber hinaus stellt die Umweltorganisation einen Argumentations-Baukasten zur Verfügung, aus dem mündige Bürger*innen mit gesundem

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Menschenverstand einen Beschwerdetext beliebiger Länge zusammenstellen können. Wer eigene Schwerpunkte setzen will, nutzt nur die Kurzanleitungen, wie man sich sein ASN-Zugangs-Konto einrichtet und wie man den Zugang freischaltet um einen Kommentar zu hinterlassen. Da die automatische Übersetzung der Anleitung nicht alle Hindernisse aus dem Weg räumt, bietet sich hier eine tolle Gelegenheit, die persönliche Amitié Franco-Allemande wieder zu beleben und sich von seinen französischen Freund*innen helfen zu lassen.

Die neuen Argumente, die sich aus aktuellen Bombenfunden sowohl an der EPR-Baustelle in Hinkley Point (8.8.17) als auch nahe den havarierten Reaktoren in Fukushima (10.8.17) in kurzer Folge zeigten, sind im Greenpeace-Argumentations-Baukasten noch nicht berücksichtigt. Noch sind auf der Flamanville-Baustelle „nur“ Altlasten aufgetaucht, die mit Colbalt 60 kontaminierte Arbeitskleidung enthalten. Doch die breit gestreuten, explosiven Hinterlassenschaften des zweiten Weltkriegs sind noch Jahre später immer wieder für Überraschungen gut.

Es ist verblüffend, in Zeiten, da Aufrufe zum Online-Protest oft genervt weggeklickt werden, mit welcher Renitenz und Kreativität die französischen Atomkritiker*innen allen Hindernissen trotzen und der ASN ein buntes Argumentationsfeuerwerk gegen den hochumstrittenen EPR abliefern. Auch Greenpeace hat offenbar nicht mit so viel Widerstandsgeist gerechnet und zeigt sich ob des starken Bürgerengagements tief beeindruckt.

IAEO: „inhärente Sicherheit ist gleichbedeutend mit absoluter Sicherheit und das ist unmöglich“

Der EPR, sei das „inhärent sichere“ Atomkraftwerk der dritten Generation, so wollte man der Öffentlichkeit weismachen, um Akzeptanz für eine herbeizuredende Atomrenaissance zu schaffen. Nein, ein „inhärent sicheres AKW“ gibt es nicht. Die Physik allein kann es nicht richten, da sowohl aktive als auch passive Sicherheitssysteme benötigt werden (Pumpen, Ventile, elektrische Steuerungselemente). Das stellt sogar die IAEO fest, der Internationale Lobbyverband der Atomindustrie, und verweist darauf, dass „der Begriff „inhärent sicher“ für ein ganzes Kernkraftwerk oder seinen Reaktor vermieden werden soll“.

Auch die Atomexperten Prof. Wolfgang Renneberg, vormals oberster deutscher Atomaufseher und Steven Sholly, vormals Mitglied des Nuclear Safety Standards Committee (NUSSC) bei der IAEO, haben bereits 2015 in einem Gutachten zum EPR* für den britischen Standort Hinkley Point, dessen Sicherheitskonzept, Wahrscheinlichkeitsannahmen sowie die hierfür angeführten Begrifflichkeiten ohne normierten Maßstab, wie „extrem unwahrscheinlich“ oder „praktisch ausgeschlossen“ zerpflückt: „die Werte, die EDF Energy und NNB (Nuclear New Build Generation Company) zur Glaubhaftmachung einer extremen Unwahrscheinlichkeit von Unfällen und großen Freisetzungen zu verwenden scheinen“ seien „lediglich Anhaltspunkte der Konstrukteure.“

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Das einzige Novum der dritten AKW-Generation ist also der Core-Catcher, welcher zur Begrenzung der Ausbreitungsfläche für eine Kernschmelze gedacht ist und der das Durchschmelzen der Kernmasse durch das Fundament verhindern soll. Doch selbst dieser spielt bei Unfallszenarien, bei denen es zu einer Umgehung des Sicherheitsbehälters kommt, keine Rolle. Das bei einer Explosion freigesetzte radioaktive Inventar wird nicht in einen Auffangbehälter plumpsen, sondern mit den jeweils vorherrschenden Winden durch Europa getragen.

Da also der Wind in alle Himmelsrichtungen bläst, ist Protest aus allen Himmelsrichtungen erlaubt. Bis zum 12. September 2017 kann gegen die Inbetriebnahme des Europäischen Druckwasserreaktors EPR europäischer Druck von allen Seiten aufgebaut werden.

Hintergründe zum Atomtausch Flamanville-Fessenheim:

https://www.freitag.de/autoren/evastegen/fessenheim-ist-aus-war-s-das-jetzt

*2015-09-01: Hinkley Point C UK - EPR; Steven Sholly, Univ.-Prof. Wolfgang Renneberg; Institut für Sicherheits- und Risikoforschung, Universität Wien

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