Kühlwasser - so warm wie Spülwasser

spröde Altmeiler - Manchmal hilft etwas Alltags-Physik, um die Probleme maroder Reaktoren zu verstehen. Und auch die Warmwasser-Kühlungen der Laufzeitverlängerer.

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„Ich habe doch nichts gemacht!“ entrüstet sich der tapfere Hausmann und zieht das zerbrochene Glas aus dem Spülwasser. Doch! Er hat ein kaltes Glas in heißes Spülwasser getunkt. Nun genügte ein leichtes Anstoßen am Teller, um das Glas zu zerbrechen. Eine anschauliche Demonstration dessen, was derzeit unter der Überschrift „Sprödbruch und Thermostress“ bei alternden Reaktordruckbehältern diskutiert wird. Diese haben zwar Stahl- und keine Glaswände, doch der Stahl wird im Laufe der Jahre immer Glas-ähnlicher, also spröder, vor allem weil ihm der permanente Neutronenbeschuss zusetzt. Das Problem ist in der Atomwirtschaft bekannt: man versucht die Versprödung des Stahlbehälters zu verlangsamen, indem man entweder die Kernbrennstäbe im Behälter so arrangiert, dass die besonders stark strahlenden weiter in der Mitte platziert werden, währen im Wandbereich schwächere Kandidaten sind. Oder es wird mit vorgewärmtem Wasser gekühlt. Die Kühlwasser-Spülwasser-Analogie ergibt sich nicht nur durch den Gleichklang: auf 45 °C wird im berüchtigten Reaktorblock 3 des AKW Doel das Kühl(!)Wasser vorgewärmt. In Fessenheim kommen beide Anti-Aging-Ansätze zum Einsatz: Block 2 bekommt vorgewärmtes Kühlwasser (20°C), in Block 1 versucht man die Versprödung mithilfe des Core-Aufbaus zu verzögern, also die schlappen Strahler nach außen. Bei beiden Varianten sind die Erfolge bescheiden, doch lassen die Betreiber nichts unversucht, was die Lebensdauer des Herzstücks eines AKW verlängern könnte. Austauschen geht nicht, das Ding muss dicht halten, sonst gerät die Anlage außer Kontrolle.

Die geriatrisch kuschel-gekühlten Belgier Doel 3 und Tihange 2 sorgten im August 2012 für Schlagzeilen, als durch ein „neuartiges Ultraschallverfahren“ Risse in den Reaktordruckbehältern nachgewiesen wurden. Die Atomaufsicht wollte beide Blöcke stilllegen. Bemerkenswert ist die Kritik, die Leiter de Roovere dafür einsteckte: die Risse seien nicht dank modernster Technik aufgespürt worden, sondern nachweislich seit 1979 bekannt. De Roovere selbst habe seinerzeit die Inbetriebnahme geleitet - als Mitarbeiter von Electrabel. Im Winter 2012 wurde er gegen einen Atomhardliner ausgetauscht: Jan Bens, der ebenfalls vom Atom-Stromer zur Atom-Aufsicht wechselte, gab 2014 grünes Licht fürden Weiterbetrieb der Riss-Reaktoren

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Was hat das alles mit Fessenheim oder mit Spülwasser zu tun? Die Risse in der Reaktoren von Doel und Tihange versteht man besser, wenn man sich die Gläser genau anschaut, bevor sie ins Spülwasser gleiten: Manchmal sind dort kleine Lufteinschlüsse sichtbar. An diesen Fehlstellen ist oberhalb und unterhalb vom „Nichts“ nur eine dünne Glasschicht. Materialstress wird also zuerst an solchen Schwachstellen zum Bruch führen.

Auf „Nukleokratisch“ heißen die verschieden Schwachstellen unbekannter Herkunft „Anzeigen“ oder „Flakes“. Das können Gaseinschlüsse (z.B. Wasserstoff) sein, die bei der Stahlschmelze entstanden sind und beim Schmieden plattgedrückt wurden. Andere Fertigungsfehler, wie Anreicherungen von Legierungs- oder Begleitelementen in den Bereichen, die beim Gießen der Form zuletzt erstarrt sind, sorgen in Reaktordruckbehältern ebenfalls für Gesprächsstoff. Der 2006 in der nuklearen Chaos-Baustelle Flamanville verschraubte Druckbehälter enthält Karboneinschlüsse, die die Elastizität des Stahls beeinträchtigen. Weil das aufflog muss nun ein Referenz-Koloss zerstörend getestet werden, nämlich der für Hinkley Point C vorgesehene Druckbehälter. Je tiefer man sich in die Reaktorstahl-Thematik wühlt, desto klarer wird: es gibt keine direkten Prüfverfahren, sondern immer nur Methoden, die eventuell Rückschlüsse zulassen. Beim Schweizer „Museums-Reaktor“ Beznau 1, hat man diese Deduktivbewertung geradezu perfektioniert: Immer neue Berechnungsverfahren liefern immer neue Zahlen, die sagen, dass der heikle Topf jetzt doch noch ein bisschen kälter werden kann, ohne zu bersten. Jünger als Beznau 1 (1969) doch älter alsDoel 3 (1982) sind die Fessenheimer Blöcke (1978). Das Ökoinstitut berichtet von Rissen, die bei der zweiten 10-Jahres-Inspektion gefunden wurden. Auch hier gibt es eine Parallele zu Doel 3: in einem Artikel der Zeit von 1980 wurde ausführlich über 2-3 cm lange, bis zu 6 mm tiefe Risse in den Fessenheimer Reaktordruckbehältern berichtet. Welche neuartigen Berechnungen können den sprödbruchgefährdeten Stahl bloß davor schützen, dass ein kühler Schwung Borsäure oder ein sanftes seismisches Ruckeln zum tödlichen Riss im Stahl führt?

Dieser Artikel erschien bereits in der solarregion 2/16

erst später tauchte ein Audio-Dokument von 1979 auf, in dem ein Ingenieur Framatome (heute Areva) über Risse im Reaktordruckbehälter von Fessenheim berichtete

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