Kampf der Neuen gegen die Alten

Elitenwechsel Ein Zwischenruf zur gegenwärtigen Diskussion aus osteuropäischer Sicht

Eliten sind ein Modethema im öffentlichen Diskurs. Mit der wachsenden sozialen Kälte sind kommunitaristische Themen in den letzten Jahren rarer, individualistische immer häufiger geworden. Das Elite-Thema ist die krasseste Form aller individualistischen Gedankengänge. Es hat besonders in Deutschland einen bestimmten "Geruch", seitdem es im Hitler-Jargon in oftmals empörender Weise zum terminologischen Deckmantel für die Ausrottung von angeblich "Minderwertigen" verwendet wurde. Über Eliten zu diskutieren lenkt vortrefflich davon ab, dass man sich nicht um die wichtigen Themen der Gesellschaft kümmert, die der Notleidenden. Der Begriff "Elite" im politischen Raum wertet Egoismus auf Kosten Schwächerer auf. Und es hat nicht unbedingt etwas mit Elite zu tun, wenn Hochbegabte anders gefördert werden müssen als weniger Begabte.

Der Systemwechsel in den ost- und ostmitteleuropäischen Staaten sowie der für Mai 2004 bevorstehende EU-Beitritt Ungarns, Polens, Tschechiens und weiterer sieben Länder hat es mit sich gebracht, dass verstärkt über politische und wirtschaftliche Eliten, genauer gesagt Funktionseliten nachgedacht wird. Schon das Wort "Elite" ist an dieser Stelle irreführend, denn um Elite im Sinne eines inhaltlichen Spitzenwertes handelt es sich dabei durchaus nicht. Vielmehr geht es in dieser Debatte lediglich um die ausführenden Organe in einem Land, um die Akteure, die Spitzenfunktionäre, die Wirtschaftsbosse. Ein Blick in den Osten Europas zeigt beispielhaft, zu wessen Wohl sich terminologische Unschärfe auswirken kann. Die Debatte über einen etwaigen "Elitenwechsel" vor, gleichzeitig mit und in mehreren Etappen nach dem Wegfall des Eisernen Vorhangs thematisiert eine Marginalie und gibt gleichzeitig das Forum der Aufmerksamkeit frei für parteipolitische Machtkämpfe. Hinter dieser Fassade jedoch gerät die Hauptsache leicht in Vergessenheit, die Frage nach dem Wohl der Gemeinschaft in all ihren Teilen.

Die Spitzen- und Führungskräfte aber sind nur ein kleiner und noch dazu privilegierter Teil der gesamten Gesellschaft. Dass sie sich - von Land zu Land im Detail unterschiedlich, doch strukturell identisch - in den meisten Fällen auch im neuen System vorteilhaft positionieren konnten, wundert niemanden, ist aber noch keine erschöpfende Auskunft über den Rest der Gesellschaft. Erst wenn sich gesichert feststellen lässt, dass in allen Segmenten der Gesellschaft, also bis hin zu den Ärmsten, eine Situationsverbesserung eingetreten ist, kann man von einer wirklichen Vorwärtsentwicklung sprechen. Faktum aber ist, dass mit dem Einzug der Demokratie vor vierzehn Jahren in den osteuropäischen Nachbarstaaten die Armut zugenommen hat, ebenso wie übrigens gleichzeitig auch in Westeuropa. Was nützt es also den Menschen, alle paar Jahre ihre Stimme abzugeben, wenn sie gleichzeitig ihre Arbeit verloren und mit einer Inflation erwürgenden Ausmaßes zu kämpfen haben? "Man versprach uns Demokratie, bekommen haben wir aber Marktwirtschaft!", stellte der streitbare ungarische Publizist István Eörsi Anfang der neunziger Jahre fest. Der Verdacht eines Etikettenschwindels liegt in der Luft.

Der Sieg des westlichen Systems über das östliche hat die Kältegrade in den einzelnen Gesellschaften verschärft. Mit dem Wort "Eliten" wird auch all jenen Raubrittern und Opportunisten eine begriffliche Aufwertung zuteil, die gerade auf Kosten der hilfloseren Mitglieder ihrer Gesellschaft für sich selbst eine Positionssicherung auch im gewandelten System erreichen konnten, die also für diese neue soziale Kälte in hohem Maße mit verantwortlich sind. Von einer wirklichen, also auch werthaften Elite kann in den meisten Ländern im Osten Europas kaum die Rede sein. Darin liegt auch das Ärgerliche an Veranstaltungen, die sich dem Modethema "Eliten" widmen. Wort- und detailreich richten sie das Augenmerk auf eine oft parasitäre, einflussreiche gesellschaftliche Randexistenz, ohne auch nur ein einziges Wort auf die Gesamtheit des Demos, der Mitglieder der Demokratie, zu verwenden. So kann man zwar viele Einzelbeispiele für die erfolgreichen Selbstrettungsmaßnahmen bereits eingeführter "Eliten" in neuen Systemen zusammentragen. Was jedoch mit 90 Prozent der Bevölkerung geschah, insbesondere mit ihren schwächsten Teilen, das erfahren wir bei dieser Gelegenheit meist nicht. Mit anderen Worten: die Information über den Preis, den eine jeweilige Gesellschaft dafür bezahlt hat, dass sich ihre Führer ohne Macht- oder Geld-, höchstens mit Gesichtsverlust von der einen auf die günstigere andere politische Seite retten konnten, wird unterschlagen. Merkwürdig in diesem Zusammenhang ist manches. Die Problemlosigkeit, mit der altbekannte Gesichter in neuer Rolle von den westlichen Ländern angenommen werden, gehört hierher; die Selbstverständlichkeit, mit der die Gleichsetzung von "Demokratie" mit "Marktwirtschaft" im Westen hingenommen wird; die geistige Unbedarftheit, die die inhaltlichen Unterschiede schon nicht mehr zur Kenntnis nimmt. Eliten, also Führungskader, nichts mit Inhalten, alles aber mit dem Funktionieren einer Gesellschaft zu tun haben und daher in jeder Art von Staatsform gebraucht werden. Sie sind die Streckenwärter auf dem Schienennetz, die dafür zu sorgen haben, dass die Züge fahren können.

Bei einem "Elite"-Symposion in Weimar im Oktober 2003, das die Beitrittsländer Polen, Ungarn, Rumänien und die DDR thematisierte, wurde mit Recht ein Vergleich zu den Eliten des Nationalsozialismus und des italienischen Faschismus hergestellt. Der ungarische Soziologe Professor Máté Szabó von der Wirtschafts-Universität Budapest wies darauf hin, dass der Systemwechsel 1989/90 den bisher in der Geschichte einmaligen Untergang eines ganzen Staates, nämlich der DDR, in einem anderen Staat bewirkt habe. Der Historiker Professor Klaus-Dietmar Henke von der Universität Dresden unterstrich, dass die Bundesrepublik Deutschland immerhin zwei bedeutende Institutionen in Berlin eingerichtet habe, die auch heute die DDR-Vergangenheit bearbeiteten, die "Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur" und die "Behörde der Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen". Zur Bewertung des Verhaltens der "Eliten" beim Systemwechsel äußerte er folgende nachdenklich stimmende Anschauung: "Trotz der aufgeladenen moralischen Rhetorik sind Vergangenheitsbewältigung und Personalsäuberung nichts anderes als die Austragung eines ganz normalen Interessenkonfliktes zwischen den neuen Eliten und Werten und den alten. Man mag das bedauern: Aber es tut sich eben kein Raum reiner Moral auf, in dem das schwere Erbe der Vergangenheit gleichsam objektiv bewältigt werden könnte. Das Ergebnis des Elitetausches ist immer nur der Reflex des aktuellen Kräfteverhältnisses zwischen den Protagonisten des Alten und des Neuen."

Die ehemaligen Bruderländer der ehemaligen DDR beobachten derweil interessiert, wie Deutschland mit seiner Sonderrolle umgeht und versuchen zu lernen, was lernenswert ist. Dass die DDR heute in Westdeutschland vielfach mit der Nazi-Diktatur parallel gesetzt wird, liegt unter anderem auch an ihrem Verlierer-Pech. So fällt dem kritischen Betrachter auch hier auf: "Eliten" verschaffen sich Gehör, indem sie entsprechende Konferenzen und ähnliche Veranstaltungen bevölkern und sich dort wortreich profilieren. Auf diese Weise versuchen "Eliten" Geschichte neu zu schreiben. Oft genug kehren sie dabei den lateinischen Rechtsgrundsatz: "Audiatur et altera pars!" um. Genau bei diesem Motto fängt Demokratie aber überhaupt erst an.


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