Stabilitas loci

Manövriermasse zwischen Ost und West Eine kleine Reise zu Sándor Márais Wurzeln in der heutigen Slowakei

Vor kurzem haben die internationale Diplomatie einige Äußerungen über die sogenannten Benes?-Dekrete in der ehemaligen Tschechoslowakei aufgeschreckt und gezeigt, dass die Erweiterung der EU noch auf sehr viele Spannungen treffen wird, für die plausible, praktikable Lösungen angeboten werden müssten. Diese sind allerdings auch in der jetzigen Union rar. Die Mittel, Spannungen abzubauen, Konflikte zu vermeiden, Traumata zu bewältigen, können zwar von außen angeboten, die Lösungen aber müssen von den Betroffenen und Beteiligten selbst umgesetzt werden. Zivile Initiativen, Vereine und andere Formen der bürgerlichen Selbstartikulation sind von großer Bedeutung, wenn es um den Abbau von formalen und kulturellen Grenzen und Feindseligkeiten geht. Als Gast der sogenannten "Muttersprachenkonferenz", einer ungarischen Gesellschaft zur Pflege der kulturellen Verbindungen zwischen Ungarn und seinen Minderheiten im umliegenden Ausland, hatte die Hamburger Publizistin Eve-Marie Kallen kürzlich die Möglichkeit, an einer Rundreise teilzunehmen, die mehrere kleinere Ortschaften um Kosice (Kassa/Kaschau) im ehemaligen Oberungarn, der heutigen Ostslowakei, sowie diese Regionalhauptstadt selbst zum Ziel hatte.



Die Stadt Kaschau liegt auf einem Gebiet, das bereits seit mindestens achttausend Jahren besiedelt ist. Alte Mauerreste aus unterschiedlichen historischen Epochen verweisen auf eine lange, zivilisierte Vergangenheit. Der östlichste gotische Dom Europas schmückt das Stadtzentrum, und sein mit bunten Emailschindeln gedecktes Dach erinnert an Kirchen wie den Stefansdom in Wien oder die Kathedrale von Dijon. Durch den ungarischen Schriftsteller Sándor Márai ist Kaschau in den letzten zwei Jahren auch wieder in das Bewußtsein jener deutschen Leser geraten, die ansonsten weniger auf den Spuren nationaler Minderheiten, dafür mehr auf denen der Belletristik wandeln. Dass Ungarn in dieser Stadt seit dem hohen Mittelalter mit Deutschen, später auch mit Juden und Slowaken zusammenlebten, lässt sich heute noch an zahlreichen Fährten ablesen: an Gebäuden, Bildern, Schriftdokumenten.

Sándor Márai (1900-1989) wirkt auf den westlichen Leser des Jahres 2002 hin und wieder leicht verschroben, wenn er ein wenig pathetisch auf der Person des "Bürgers" beharrt. Die bessere Übersetzung dessen, was er damit meint, bietet die französische Sprache, wenn sie vom "citoyen" spricht, also dem Staatsbürger mit einem entsprechenden, dem Gemeinwohl verpflichteten Bewusstsein. Eine gewisse Großspurigkeit, wie sie etwa durch Márais Tagebücher hindurchschimmert, findet ihr beachtenswertes Gegenbeispiel in dem weit weniger bekannten Zoltán Fábry (1897-1970), dem "Einsiedler von Stósz". Dieser Schriftsteller, Publizist und Schriftensammler verbrachte sein ganzes Leben in jenem gottverlassenen kleinen, von deutschen Bergarbeitern gegründeten Ort in etwa 30 Kilometer Entfernung von Kaschau, und seine gesamte Lebensführung verweist auf eine gänzlich andere Bürger-Tugend: die Bescheidenheit. Das Haus, das Fábry in Stósz bewohnte, mitsamt der Bibliothek, die er zusamentrug und in der er arbeitete, ist heute noch zu besichtigen. Fábry war ein engagierter Humanist mit kommunistischen Idealen. Aus dieser geistigen Position bekämpfte er in Schrift und Tat den obwaltenden Faschismus in all seiner Kulturfeindlichkeit und Brutalität. Durch seine innere Standfestigkeit, verbunden mit seiner äußeren stabilitas loci, wurde er im Laufe seines Lebens der geistige Führer der Ungarn in der Tschechoslowakei.
Márai und Fábry repräsentieren zwei völlig unterschiedliche Schriftstellertypen, deren Trennlinie in auffallender Weise mit dem Verhältnis zu ihrem eigenen Land und der Gesellschaft, aus der sie kamen, zusammenhängt: hier der Stadtmensch, der stolz ist auf die Tradition seiner Patrizier-Familie, die er in allen ererbten Gebrauchs- und Erinnerungsstücken ehrt, der gar feststellt, nie ein eigenes neues Möbelstück gekauft zu haben, dort der Landmensch, dem die materiellen Lebensnöte seiner Mitmenschen auf ganz persönliche Weise am Herzen liegen. Für beide folgte daraus eine entscheidende Konsequenz, die ihren gesamten Lebensweg prägte. Márai verließ Ungarn mit Anfang 20, ging ins westliche Ausland, kehrte für einige Jahre nach Budapest zurück und verließ mit knapp 50 für immer sein Geburtsland in Richtung Westen, in Richtung Süd-Kalifornien. Fábry hingegen blieb, von einigen Jahren Kriegsdienst in Westeuropa abgesehen, sein ganzes Leben lang in seinem Geburtsort Stósz und versuchte, an Ort und Stelle Einfluss zu nehmen. Auf ihre schriftstellerische Arbeit hatte für Márai und Fábry ihre durch Milieu und Eigencharakter geprägte unterschiedliche Mentalität folgenden Einfluss: Der eine suchte das Land der Griechen und der österreichisch-ungarischen Vergangenheit mit der Seele und dem Schreiben, der andere versuchte eine volksnahe und gegenwartsbezogene Kongruenz aus Leben und Schrift. Sie veranlasste ihn sogar, zeitweilig als Friedensrichter in seinem Heimatort zu wirken.
Lange Zeit war Sándor Márai in Ungarn verdrängt und vergessen, nun ist es Zoltán Fábry. Als Citoyen und mit einer gewissen Überheblichkeit hatte Márai sich von seinem proletarisch werdenden Heimatland abgewandt und nicht gestattet, dass seine zahlreichen Bücher in Ungarn erscheinen dürften, solange die Rote Armee im Lande war. Nun, mit dem System- und Gesinnungswechsel allerorten in Europa, passt seine Gedankenwelt plötzlich viel besser zum herrschenden geistigen Klima als das Werk Fábrys, dessen überzeugendes menschliches Engagement für einen humanistischen Sozialismus der "kleinen Leute", die er als "vox humana" bezeichnete, jetzt als Makel gilt. Fábry, 1970 im Alter von 73 Jahren verstorben, ist in keinem modernen literarischen Lexikon zu finden, Márai war es nicht in den früheren.

In Jászó/Jasov steht eine Prämonstratenser-Abtei aus dem 12. Jahrhundert. Ihr heutiges Erscheinungsbild ist von spätbarocken Stilelementen geprägt. Das riesige Anwesen steht jetzt fast völlig leer, es verfällt, die Farbe blättert von Wänden und Mauern, die Gärten und Ländereien werden nur kümmerlich bewirtschaftet.
Der Orden der Prämonstratenser wurde von dem später heiliggesprochenen rheinischen Adeligen Norbert von Xanten im Jahre 1121 in der Gegend von Laon in Nordfrankreich als Reformorden der Augustiner gegründet. Dieser Orden erlangte bald große Bedeutung als Schul-, Bildungs- und Kolonisierungsorden mit besonderem Tätigkeitsfeld in Mittel- und Osteuropa. In den etwa 832 Jahren ihrer Existenz diente die Abtei von Jászó dem Leben des gesamten Umlandes in vielerlei Hinsicht: die Mönche verpachteten Teile ihrer Ländereien zur Bewirtschaftung und bildeten durch ihre gesamte Arbeit ein wirkungsvolles Strahlzentrum für die Kolonisierung des Gebietes um Kaschau. Sie übten als "locus credibilis" Notariatsdienste aus für Kirche und Staat seit der Zeit des ungarischen Königs Béla IV. Sie befestigten die Abtei zum "Castrum Jászó" in der Regierungszeit König Sigismunds, nachdem das Kloster zwischen 1240 und 1242, beim großen Tatarensturm, stark beschädigt und seine gesamten Dokumente vernichtet worden waren.
Die Goldene Zeit der Prämonstratenser-Abtei von Jászó waren die gut hundert Jahre zwischen dem Beginn des 19. und dem Beginn des 20. Jahrhunderts, als sowohl die landwirtschaftlichen und bergbau- als auch die bildungsbezogenen Tätigkeiten der Mönche mit großem Erfolg ausgeübt und - in einer Situation relativer politischer Ruhe - eine Konsolidierung des klösterlichen Besitzes vollzogen werden konnte. Dann aber wechselten die Geschicke wieder, und die Abtei wurde erheblich weniger erbaulichen Zielen unterworfen wie etwa der Funktion als Konzentrationslager für Ordensfrauen und -männer in den stalinistischen Jahren um 1950 sowie anschließend der Nutzung als kommunistische Kaderschmiede.
Über die Jahrhunderte hin wurden die Prämonstratenser dreimal aus Jászó vertrieben, doch bisher gelang ihnen jedes Mal die Rückkehr. Heute aber ist das Kloster nicht mehr durch die Aggressivität von Plünderern oder politischen Feinden bedroht, sondern einfach durch Nichtbeachtung, durch mangelnden Nachwuchs und durch mangelnde Geldmittel. Jászó ist jetzt so etwas wie der sichtbare Inbegriff des Niedergangs dieser ehemals blühenden Region, die heute marginalisiert ist und als Manövriermasse zwischen Ost und West gelitten hat.

Geldmangel zeigt seine harten Spuren bei dieser Rundreise auf Schritt und Tritt. Nicht nur die riesige Abtei von Jászó ist es wert, in großem Stil renoviert und restauriert zu werden, auch das Fábry-Haus in Stósz ist es, in dessen etwa 8.000 Bücher umfassender Bibliothek - darunter manches kostbare deutschsprachige Stück aus der Zwischenkriegszeit sowie die gesammelten Werke von Goethe, Novalis und Shakespeare - mit ihrem über hundertjährigen, mit Fresken ausgemalten Gewölbe die beißende Feuchtigkeit zerstörerisch herrscht. Dies sind wertvolle Denkmäler der Vergangenheit, aber auch Zeugen einer hohen Kultur, in deren Rahmen von Osten kommende Menschen westlich geprägt wurden.
Das Kontrastprogramm zwischen großer Einfachheit der allgemeinen Lebensumstände und den Spuren bedeutender, teilweise mit großer gesellschaftlicher Macht ausgestatteter europäischer Kulturtradition war ein intensives, verwirrendes Erlebnis. Dieses gesamte ostmitteleuropäische Revier verhält sich ja zu Westeuropa nicht nur wie die Peripherie zum Zentrum, man kann bei einer solchen West-Ost-Reise die psycho-geographischen Landschafts- und Grenzverschiebung geeradzu spüren.
Lange durfte man über die ungarischen Befindlichkeiten in Westeuropa nicht sprechen. Erst durch den Wegfall des Eisernen Vorhangs, den Ungarn am tatkräftigsten mit zerschnitten hat, verbesserten sich die Wege nach Europa wieder. Reisen in die Ungarn umgebenden Gebiete sind möglich geworden, Wiedererkennung von "normalem" europäischem Kulturgut kann jetzt auch von Westeuropäern an Ort und Stelle erlebt werden. Vielleicht werden öfter Menschen so reagieren wie ich in diesen Tagen: erst war ich befremdet. So wie die Ungarn hier an ihrer kulturellen Herkunft hingen, klang mir das nationalistisch. Doch wenn man weiß, wie die ungarische Minderheit in der Slowakei heute unterdrückt wird, hat diese Hervorhebung von für uns Selbstverständlichem vielleicht doch einen Wert - nämlich, zu dieser oder jener Kulturnation zu gehören. Das Wort "Nation", ähnlich wie das Wort "Religion" hat bei manchen Menschen hierzulande, die sich für aufgeklärt halten, längst einen negativen Klang. Daraus entsteht leicht ein verständnisloses Stirnrunzeln, wenn in dieser Region von ebenfalls aufgeklärten Menschen betont wird, es sei gut, ungarisch zu sein. Natürlich, so denken wir dann leicht, ist das genauso gut oder schlecht wie deutsch, französisch oder isländisch zu sein.
Die Wichtigkeit von Vereinen in dieser Region fällt auf. Sie sind es, die das Leben einer wie auch immer kleinen Öffentlichkeit ermöglichen. Die Bürger haben sich organisiert, um vereint stark zu sein, um ihr kulturelles Erbe - ein heute vielzitiertes Wort - in die Gegenwart zu holen. Darin liegt auch ein Teil der Bedeutung der "Muttersprachenkonferenz".
An dieser Stelle reichen sich Politik und Literatur die Hand. Wenn Schriftsteller wie Sándor Márai nicht mit den Mitteln der Sprache ein weit über die Landesgrenzen hinausweisendes Werk geschaffen hätten, wüssten die heutigen Westeuropäer weniger über die fernen und doch so nahe verwandten osteuropäischen Befindlichkeiten. Wenn Márai mit seinem Genie nicht den Bogen bis nach Ithaka gespannt und selbst in seiner persönlichen Lebenszeit wie ein Odysseus des 20. Jahrhunderts von seiner Heimat ausgewandert wäre, das Land der geistigen Freiheit im Westen suchend, dann wären wir alle ärmer. Und wenn Zoltán Fábry nicht die gegenteilige Mobilität an den Tag gelegt und ein ganzes Leben lang in seinem Heimatort ausgeharrt hätte, dann wäre mit großer Sicherheit manche kulturelle Spur im Land um Kaschau längst verschwunden. Dann könnte heute womöglich kein westlicher Besucher dieses Erlebnis totaler Verblüffung haben, das darin besteht, mitten in ländlicher Idylle eine Bibliothek von Weltniveau zu finden.

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