Im Gespräch Nach der brutalen Gruppenvergewaltigung in Indien organisierte der 25-jährige Brijendra Pratap Singh Proteste gegen die Unterdrückung von Frauen. Was hat sich verändert?
Im Januar demonstrierten Tausende – wie hier in Neu-Delhi – gegen Gewalt gegen Frauen. Mittlerweile sind die Proteste weniger geworden
Foto: Raveendran / AFP
Der Freitag: Nach der Gruppenvergewaltigung, an deren Folgen eine 23-jährige Studentin im Dezember starb, gingen in Indien Tausende auf die Straße, um für Frauenrechte zu protestieren. Wie sieht das drei Monate später aus?
Brijendra Pratap Singh: Im Moment gibt es nur noch sehr wenige Proteste. Unsere Organisation „Save Women, save India“ und einige andere versuchen den Druck aufrechtzuerhalten, aber viele Leute wenden sich ab. Die Resonanz ist sehr gering. Die Bedeutung der Sache geht mit etwas zeitlichem Abstand wieder verloren und die eigene Karriere und all die anderen Sorgen des Alltags gewinnen wieder an Bedeutung. Trotzdem hat sich auch schon einiges verändert.
Was denn?
Das Bewusstsein, wie man Frauen in der Öffentlichkeit behandelt, hat sich
Was denn?Das Bewusstsein, wie man Frauen in der Öffentlichkeit behandelt, hat sich zumindest teilweise gewandelt. Vor dem 16. Dezember gab es auch ähnliche Vorfälle, mit dem Unterschied, dass die Menschen damals nichts darüber erfuhren oder dass sie den Frauen nicht glaubten. Jetzt gibt es eine höhere Sensibilität. Nehmen wir die öffentlichen Verkehrsmittel: Früher schritten vielleicht 30 Prozent der Mitfahrer ein, wenn eine Frau dort belästigt wurde. Jetzt, nach dem Vorfall, sind es deutlich mehr. Das Problem ist aber, dass diese Vorfälle nichts langfristig verändern. Nach fünf bis sechs Monaten vergessen die Menschen alles wieder.Wie wird das Gerichtsverfahren gegen die mutmaßlichen Täter wahrgenommen?Über das Gerichtsverfahren wissen wir nicht viel, die Medien und das Publikum sind ausgeschlossen. Wir wissen nur, dass die Gerichtsverhandlung momentan läuft. Genauso wie andere Fälle vorher wird auch dieser im Eilverfahren verhandelt.Am vergangenen Wochenende wurde der mutmaßliche Haupttäter erhängt in seiner Zelle aufgefunden. Wie hat die indische Öffentlichkeit darauf reagiert?Mit gemischten Reaktionen. Ich bemerke eine gewisse Erleichterung bei vielen. Einige sagen, sie seien glücklich über seinen Tod – anderen sagen, er hätte vorher noch mehr leiden müssen.Das Bedürfnis nach Rache ist offenbar groß. Bei den Protesten forderten viele die Todesstrafe für alle Angeklagten ...Ich kann diese Forderung verstehen, ich bin aber der Meinung, dass die Todesstrafe keine Lösung ist. Der Täter muss verstehen lernen, was er falsch gemacht hat. Eine lebenslange Haft ist daher viel sinnvoller.Was hat die Politik getan?Sie hat angekündigt, die Gesetze zu verschärfen. Momentan wird man für eine Vergewaltigung mit bis zu sieben Jahren Gefängnis bestraft. Demnächst soll einem Täter lebenslange Haft drohen.Ihre Organisation will nach eigener Aussage Menschen motivieren, sich und das System zu ändern. Wie gehen Sie da vor?„Save Women, save India“ ist ein Team aus 300 bis 400 Mitgliedern. Wir sind eine gemeinnützige Organisation. Einmal in der Woche gehen wir in Gruppen zu verschiedenen öffentlichen Plätzen und versuchen über Gespräche, die Sichtweise von Männern in Bezug auf Frauendiskriminierung und Gewalt zu ändern. Unser Kampf ist vor allem im alltäglichen Leben wichtig – wir versuchen da auch, Vorbild zu sein. Zum Beispiel wenn ich auf der Straße unterwegs bin und in eine Situation gerate, in der eine Frau belästigt wird. Dann versuche ich die Männer zu überzeugen, die Frau nicht so zu behandeln. In den meisten Fällen kann man mit Worten wirklich etwas bewegen, manchmal müssen wir die Polizei rufen.„Save Women, save India“ gab es schon vor der Vergewaltigung vom 16. Dezember. Was war der Anlass für die Gründung?Indien ist ein Land, in dem sehr viele Menschen immer noch glauben, dass es richtig ist, dass Männer über Frauen bestimmen. Das will ich ändern.Gab es ein konkretes Ereignis als Auslöser?Ja, ich hatte eine Freundin aus Kindertagen. Irgendwann erzählte sie mir, dass sie ihren Master in Biotechnologie machen möchte, aber ihre Eltern, die sehr konservativ waren, verboten ihr das Studium. Sie erzählte uns befreundeten Jungs davon und wir dachten, wir könnten ihre Eltern überzeugen. Doch ihr Vater sagte, aufgrund der Tradition wäre es an der Zeit, dass sie verheiratet würde. Mittlerweile hat sie zwei Kinder, einen Ehemann – und all ihre Träume verloren. Nach diesem Erlebnis erkannten ich und meine Freunde, dass es viele Mädchen mit diesen Problemen gibt. Das war der Ausgangspunkt.Ihre Organisation war eine der federführenden bei den Protesten. Hat Sie die Größe der Demos überrascht?Ja, als mein Team und ich die Demonstrationen planten, wussten wir zwar, dass die Menschen wütend waren, aber dass so viele Leute kommen würden, hatten wir nicht erwartet. Als wir beschlossen zu protestieren, schworen wir uns, es für die Sache zu tun – ganz egal wie viele kämen.Die Proteste entzündeten sich an einem bestimmten Fall, der aber ja bei weitem kein Einzelfall ist. Woher kommt die viele Gewalt gegen Frauen?Es ist ein soziales Problem. Man muss zwischen Oberschicht, Mittelschicht und Unterschicht unterscheiden. In der Oberschicht arbeiten die Männer in internationalen Firmen in Führungspositionen. Sie sind weltoffen und aufgeklärt, was die Stellung der Frau betrifft. Viele Männer in der Mittelschicht sind verwirrt. Sie wissen gar nicht, wie sie sich verhalten sollen. In der Unterschicht sind sich die Männer sicher, das die Rolle der Frau im Hause ist.Wie zeigt sich das im Alltag?Nehmen wir die Vorstellungen zur Frau in der Öffentlichkeit: Die Unterschicht sagt, die Frau soll besser nicht in die Öffentlichkeit gehen, die Mittelschicht ist sich nicht sicher, was sie darüber denken soll – und die Oberschicht denkt: Ja, klar soll die Frau rausgehen. Das führt dazu, dass Frauen sich in der Öffentlichkeit bewegen und da auf Menschen treffen, die nicht verstehen können, was Frauen außerhalb ihres Zuhauses machen.Aber warum gibt es noch sogroße Unterschiede?Ich glaube, schuld daran ist ein Mangel an Informationen. In den vergangenen Jahren veränderten die neuen Technologien dramatisch den Lebensalltag vieler Menschen. Es gibt neue Berufsfelder, der Informationszufluss ist anders, auch internationaler – und ein Schwarm an neuen Ideen kommt ins Land. Viele der älteren Generation haben aber keinen Zugang zu diesem Wissen und somit hat sich deren Horizont nicht verändert.Also stimmt das Bild, das viele Medien zeichneten: Hier die armen, ungebildeten, rückständigen Vergewaltiger – dort die aufgeklärten, bessergestellten, emanzipierten Männer?Ja, Bildung spielt eine große Rolle. Aber: Sie ist auch nicht allein dafür verantwortlich, wie Männer eine Frau behandeln. Übergriffe von gebildeten Männern sind seltener, aber es gibt sie.Müssen nicht viele Männer auch ihr Verhalten überdenken, ohne dass sie schon gewalttätig gegen Frauen geworden sind?Es ist unglaublich wichtig für Männer, ihr Verhalten gegenüber Frauen zu reflektieren. Viele Frauen werden in der Öffentlichkeit abwertend oder in vulgärem Ton angesprochen. Dabei geht es doch einfach darum, sie zu respektieren, statt sie zu demütigen.Was würden Sie sich wünschen?Frauen sollten so unabhängig sein, dass sie über sich selbst entscheiden können. Das ist das Einzige, was man ihnen geben sollte. Alles andere holen sie sich selbst.Welches Geschlechterverhältnis wurde Ihnen selbst von Ihren Eltern vorgelebt?Ich komme aus der oberen Mittelschicht – und ich wurde sehr frei erzogen. Ich war in einer gemischten Schule und meine Eltern verboten mir nie, mit Mädchen zu spielen. Was in manchen Teilen Indiens nicht so selbstverständlich ist, wie es aus westlicher Sicht wirken mag. Meine Eltern waren sehr aufgeklärt und weitsichtig. Mein Vater hat ein eigenes Unternehmen, meine Mutter arbeitete lange als Anwältin. Momentan ist sie aber zuhause.Und wie kann man langfristig die indische Gesellschaft verändern? Nur über Demos und Facebook-Gruppen wird das nicht gehen ...Demonstrationen und Facebook-Gruppen sind sicher nicht die ultimative Lösung, vor allem nicht auf Dauer. Es ist aber ein Anfang. Unser nächster Schritt ist, dass wir uns mit Menschen unterhalten. Manche teilen unsere Meinung nicht, manche respektieren uns, aber die meisten hören uns auf jeden Fall zu. Und wenn ich nur zehn Prozent der getroffenen Menschen überzeugen kann, dann ist das ein gutes Ergebnis.Also eine Politik der kleinen Schritte?Irgendwo muss man ja anfangen. Ich bin mir bewusst, dass unsere Organisation allein nicht die Lösung ist, aber wir sind Teil der Lösung. Wir können Menschen nur inspirieren. Sie müssen für sich selbst erkennen, was sie als falsch empfinden und was nicht gut läuft. Und wenn sie dann bereit sind, etwas zu ändern, werden sie es tun, aber sie müssen es aus sich selbst heraus machen.Das Gespräch führte Evi Lemberger
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