Als im Juni 2000 Präsident Hafiz al-Assad im Alter von 70 Jahren starb, übernahm sein junger Sohn Baschar die Macht und kündigte umgehend Reformen an. Vom Ende einer Ära war die Rede, in der ein Staatschef jahrzehntelang mit eiserner Hand regiert hatte. Plötzlich meldeten sich bis dato unsichtbare Politiker und Intellektuelle zu Wort. Für sie stand fest, dass die Misere der Syrer vorrangig durch das Machtmonopol des verstorbenen Präsidenten sowie ein geringes Mitspracherecht der Bevölkerung verursacht sei.
Nun sollte Demokratie Abhilfe schaffen. Allerdings hatten demokratische Strukturen in der politischen Kultur Syriens bis zu diesem Zeitpunkt nie existiert, abgesehen von einer kurzen Zeit unmittelbar nach der Unabhängigkeit von 1946. Bereits zwei Jahre danach war es damit vorbei, als im Sog der Gründung Israels die syrische Armee den Staat unter ihre Obhut nahm. Das politische Klima veränderte sich zugunsten einer von vielen Politikern und Intellektuellen vertretenen Ideologie, die Pluralismus und Demokratie mit Schwäche gleichsetzte. Die Demokratie, hieß es, öffne den Feinden der arabischen Sache Tür und Tor. Ein Bekenntnis zur Demokratie hätte zudem ein gewisses Maß an Selbstkritik verlangt, wie sie in Syrien seit jeher im Keim erstickt wurde – und immer noch wird. Ein weiteres Hindernis auf dem Weg zur Demokratie waren die ab 1963 geltenden Notstandsgesetze, die nicht nur elementare Verfassungsrechte außer Kraft setzten, sondern ein bestehendes Herrschaftssystem zementierten, um die Willkür der Machthaber zu legitimieren.
Die in Damaskus bis heute regierende Baath-Partei hat sich stets als Inbegriff des Panarabismus präsentiert und kämpferische Losungen gegen Israel artikuliert. Während des Ausnahmezustands gründeten sowohl der ideologische Unterbau als auch die Identität des modernen Syrien auf einer permanenten Verteufelung der „Anderen“ – egal, um wen es sich handelte. Das Regime beanspruchte für sich, nach den Gesetzmäßigkeiten der Geschichte die einzig logische Konsequenz des arabischen Nationalismus zu sein (und als einzige Kraft diesen Nationalismus richtig zu verstehen).
Den Ausnahmezustand aufzuheben und einen demokratischen Nationalstaat zu errichten, hätte bedeutet, den Bürgern mehr Rechte einzuräumen. Das wollten die Machthaber auf keinen Fall. Deshalb wurden die Aktivisten des „ersten Frühlings“ nach dem Tod von Hafiz al-Assad kurzerhand lebendig begraben – das heißt, sie kamen für Jahre hinter Gitter. Dank der Notstandsgesetze reichte dafür schon der Vorwurf, sie hätten für ausländische Botschaften gearbeitet und die Moral der Nation untergraben. Der repressive Kurs wurde dadurch erleichtert, dass mit dem 11. September 2001 die Zeichen weltweit auf Antiterror-Kampf standen und Syrien dafür gebraucht wurde.
Kurzerhand begraben
Nach der US-Invasion im Irak 2003 und der Ermordung des libanesischen Premiers Rafik al-Hariri 2005 sah es zwar immer wieder so aus, als seien die Tage dieses Regimes gezählt. Doch Baschar al-Assad konnte sich halten bis zum Frühjahr 2011 – bis am 15. März mit dem Volksaufstand ein zweiter politischer Frühling anzubrechen schien. War der erste vorrangig von den intellektuellen Eliten getragen worden, hatte nun die Jugend das Sagen und eine Bevölkerung im Rücken, die dem politischen Geschehen normalerweise schweigend zusah. Obwohl ähnliche Ziele verfolgt wurden wie 2000 und viele Parolen aus jener Zeit erneut auftauchten, distanzierten sich etliche Aktivisten des „ersten Frühlings“ aus teils nicht nachvollziehbaren Gründen, die hier nicht näher erläutert werden sollen.
Freiheit für eine Zivilgesellschaft, nationale Einheit, Gerechtigkeit und Achtung der Menschenwürde lauten die Forderungen im Augenblick. Das Regime reagiert wie zu erwarten mit brutaler Gewalt, niemals um eine Rechtfertigung verlegen. Am beliebtesten ist die Version von den islamischen Traditionalisten, die den Protest angezettelt hätten, damit aus Syrien ein konservativer islamischer Staat werde. Das freilich wäre ein absolutes Novum, denn noch nie seit der Vertreibung der Osmanen aus Damaskus im Jahre 1918 hat es eine scharfe Konfrontation zwischen religiösen oder ethnischen Gruppen gegeben oder eine Bedrohung durch Islamisten, die für einen Gottesstaat kämpfen. Einzig in den frühen achtziger Jahren kam es kurzzeitig zu einer Zerreißprobe zwischen den Muslimbrüdern und dem Staat, die Letzterer aber recht schnell für sich entscheiden konnte.
Knapp ein halbes Jahr nach Beginn des Aufruhrs hält die Protestbewegung – entgegen anders lautender Berichte – konsequent am Prinzip der Gewaltlosigkeit fest. Entspräche auch nur ein Viertel der von den staatlichen Medien kolportierten Meldungen über bewaffnete Gruppen, die bestimmte Personen gezielt angreifen, der Realität, hätte Syrien seit März unentwegt am Rande eines Bürgerkriegs gestanden.
Der dritte Frühling wird mit dem Tag anbrechen, an dem für alle ein menschenwürdiges Leben in einem gerechten Staat beginnt. Der Weg dorthin ist beschwerlich und der Preis der Freiheit hoch – die Erwartungen, die in das syrische Volk gesetzt werden, sind es auch.
Eyad Abdullah ist syrischer Schriftsteller und solidarisiert sich in seinen Essays mit den Zielen der Opposition
Dieser Text ist Teil der Freitag-Sonderausgabe 9/11, die der Perspektive der arabisch-muslimischen Welt auf die Terroranschläge und ihre Folgen gewidmet ist. Durch einen Klick auf den Button gelangen Sie zum Editorial, das einen ausführlichen Einblick in das Projekt vermittelt. In den kommenden Tagen werden dort die weiteren Texte der Sonderausgabe verlinkt
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.