Jüdisch-Arabischer Safe Space

Utopie Neue Formen friedlichen, progressiven Zusammenlebens für Menschen des Nahen Ostens will das „Middle East Union-Festival“ ausloten – und zeigt: In Berlin ist dies Realität

Man kann endlos darüber diskutieren, wie unwahrscheinlich es doch ist, dass ausgerechnet auf einem Berliner Kulturfestival die Konflikte des Nahen Ostens gelöst werden. Oder man lässt einfach eine Band aus israelischen, polnischen, syrischen und iranischen Musikern gegenüber dem Haus der Wannsee-Konferenz auftreten und führt so von Anfang an jeder Skeptikerin vor Augen: In Berlin ist nichts unmöglich.

In Sichtweite des Ortes, an dem Deutsche die Vernichtung des europäischen Judentums beschlossen, spielt am Freitagabend die Band mit dem passenden Namen Kayan (Existenz) zum hebräischen und arabischen Gesang von Sängerin Eden Cami. Das Konzert im Garten des Literarischen Colloquium Berlin ist eine von einem Dutzend Veranstaltungen des „Middle East Union Festival“. Rund 40 Künstlerinnen, Wissenschaftler, Autorinnen und Aktivisten loten dort von Donnerstag bis Sonntag neue Formen des Zusammenlebens im Nahen Osten aus: „Über nationale Grenzen, religiöse und sprachliche Unterschiede hinweg“, hinzu „einer fortschrittlichen Union“, heißt es auf der Website des Festivals.

Wer beim Stichwort „Nahost“ nun Debatten über Flächenbrände, Gewaltspiralen und die Grenzen von Israelkritik befürchtet, kann aufatmen: Auf die üblichen deutschen Nahost-Erklärer hatten die Veranstalter bewusst verzichtet. Die Panels waren ausschließlich mit Experten und Expertinnen mit Bindestrich-Identitäten und biographischem Bezug zur Region besetzt.

Wenn man alle Klischees abzieht

Das zahlte sich aus. Was bei einem Nahost-Festival übrig bleibt, wenn man alle Klischees abzieht, ist, was der jüdisch-arabische Dichter Mati Shemoelof in seiner Eröffnungsrede im Babylon am Rosenthaler Platz die „völlig fantastischen Möglichkeiten eines Auswegs“ nannte. Mal entwerfen ein deutsch-arabischer Wissenschaftler und eine jüdisch-amerikanische Wissenschaftlerin eine gemeinsame jüdisch-arabische Vertreibungserzählung und dekonstruieren nebenbei den „europäischen Mythos“, dass es sich bei „Arabern und Juden“ um ein Gegensatzpaar handelt. Ein andermal erkunden eine israelische, ungarisch-palästinensische und amerikanisch-iranische Filmemacherin die Möglichkeiten des Empowerments von Frauen im nahöstlichen Unterhaltungsgeschäft. Unter dem Titel „Queeristan“ diskutieren LGBTIQ* mit Wurzeln in Nahost, ob sich Staat und Religion auf ähnliche Weise dekonstruieren lassen wie Heterosexualität und Ehe. Israelische und palästinensische Umweltaktivisten konzeptionieren ein Gremium, das erst Aktivismus und Spiritualität zusammenbringt, um schließlich dem Klimawandel (und Sprachkonventionen) den Kampf anzusagen: das „Middle-East-Umwelt-Majlis“. Ein Romanautor aus Kairo und eine Historikerin aus Chicago schmieden unterdessen schon einmal literarische Pläne für die Zeit nach der Überwindung der Zensur-Regime in Nahost.

Wer manches davon für realitätsferne Illusionen hält, hat das Konzept des Festivals verstanden. „Wir wollten wirklich etwas Utopisches imaginieren“, erklärt die Schriftstellerin Hila Amit, die gemeinsam mit Mati Shemoelof und der palästinensischen Umweltaktivistin Alaa Obeid das vergangene Jahr mit der Kuration des Festivals verbracht hat. Wie die meisten Teilnehmer verkörpern sie den Anspruch an eine „Middle East Union“ schon in ihrer eigenen Biographie: Hila Amit und Mati Shemoelof sind beide aus Israel nach Berlin gezogen. Seine Eltern stammen aus Iran und Irak. Ihre aus Iran und Syrien.

Begonnen hat ihre Utopie eines geeinten Nahen Ostens schon vor vier Jahren. Gemeinsam gründeten sie Anu: Jews and Arabs Writing in Berlin, eine Veranstaltungsreihe, die jüdische und arabischen Berliner zu Diskussionen, Lesungen und anderen künstlerischen Events zusammenbringt. Vor einem Jahr ging daraus das „PARATAXE SYMPOSIUM VII. NahostBerlin“ hervor, auf dem Berliner Autoren und Autorinnen mit Nahost-Bezug das Verhältnis von jüdischer und arabischer, Berliner und nahöstlicher Kultur erkundeten. Das „Middle East Union Festival“ ist auch der vorläufige Höhepunkt des Versuchs, Räume arabisch-jüdischen Austausches jenseits mehrheitsdeutscher Strukturen zu schaffen.

Kein Shitstorm

Den Eigenheiten der deutschen Mehrheitsgesellschaft konnte sich das Festival zum Glück auch an anderer Stelle entziehen. Politische und mediale Kampagnen sowie Shitstorms in Sozialen Medien gegen Veranstalter und Teilnehmerinnen blieben zum Glück aus. Nicht selbstverständlich in einer Zeit, in der in Deutschland immer häufiger Veranstaltungen von linken Israelis und jüdischen Kulturschaffenden mit Verweis auf die BDS-Resolution des Bundestages abgesagt werden. Ob das auch ein Erfolg der „Initiative GG 5.3 Weltoffenheit“ ist, in der vergangenen Dezember Vertreter prominenter deutscher Kultur- und Wissenschaftseinrichtungen gegen Einschränkungen von Kunst- und Wissenschaftsfreiheit plädierten, kann man nur vermuten. Sicher ist: Statt Cancel-Forderungen gab es für das „Middle East Union Festival“ eine Förderung des Hauptstadtkulturfonds.

Auch solche staatliche Förderungen seien der Grund, warum die jüdisch-arabische Kulturszene ausgerechnet in Berlin so aufblühe und Veranstaltungen wie das „Middle East Union Festival“ möglich werden, meint Hila Amit. Seit Jahren schon zieht Berlin Künstlerinnen, Intellektuelle und Aktivistinnen aus der arabischen Welt und Israel an: sei es wegen größeren politischen Freiheiten, der Sprachenvielfalt oder schlicht den vergleichsweise niedrigeren Mieten. Von Berlin als „arabische Exil-Hauptstadt“ schrieb der ägyptisch-australische Soziologe und Festival-Teilnehmer Amro Ali vor zwei Jahren. Für die Menschen des Nahen Ostens sei „das freie und wiedervereinte Berlin in den letzten 30 Jahren eine Zuflucht geworden: zu einem Treffpunkt und Hoffnungsort, an dem Neues entstehen kann, Ungewöhnliches möglich ist“, sagt Festival-Veranstalter, Schriftsteller und Liedermacher Martin Jankowski.

Noch ein positiver Bezugspunkt kommt auf den Panels immer wieder zur Sprache: Die Erinnerung an eine Zeit, in der schon einmal so etwas wie eine „Middle East Union“ existiert habe. „Mein Vater fuhr noch von Jerusalem nach Damaskus. Heute kannst du nicht mal mehr von Jerusalem nach Ramallah fahren“, formulierte Steve Sabella die bei vielen Teilnehmern zu spürende Sehnsucht nach einem Nahen Osten ohne die Spuren des europäischen Kolonialismus.

Auf einer der Podiumsdiskussionen zu vergangenen Utopien in der Region erzählt der in Berlin lebende Künstler, wie er sich nach Jahrzehnten aus israelischer Unterdrückung befreit habe – für den Preis, dass er „nun überall und nirgends“ zu Hause sei. „Wir haben doch einen Platz“, entgegnet ihm der in Israel geborene Soziologe und Vorsitzende der Berliner Synagoge Fraenkelufer Dekel Peretz. „Wir sind hier in Berlin“. Kurz darauf leisten die in Berlin lebenden Musiker der iranisch-israelischen Band Sistanagila mit einem Mix aus sephardischer und persischer Musik, Flamenco und Jazz ihren Beitrag zur „Middle East Union“. Bis diese auch im Nahen Osten umgesetzt ist, wird es vermutlich noch etwas dauern. In Berlin ist sie hingegen jetzt schon Realität.

Fabian Goldmann ist Journalist und Islamwissenschaftler

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