Tribunal Popular en Siloé: Volkstribunal in Kolumbien praktiziert Klassenjustiz von unten
Reportage In Kolumbien stockt zwei Jahre nach den Sozialprotesten die Aufklärung der damals eskalierenden Polizeigewalt – trotz einer linken Regierung in Bogota. Daher haben Betroffene in Siloé selbst ein Volkstribunal abgehalten
Porträts der Menschen, die 2021 während der Proteste gegen die Regierung gestorben sind
Foto: Luis Robayo/AFP//Getty Images
Siloé ist in Kolumbien mittlerweile ein fester Begriff geworden. Es ist nicht mehr nur die Bezeichnung eines Viertels der Millionenstadt Cali, sondern „Siloé“ steht auch für ein Staatsverbrechen: die Morde an Demonstrierenden im Mai 2021. Jetzt kämpfen die Menschen in Siloé dafür, dass ihr Viertel auch zum Symbol für Aufklärung und Gerechtigkeit wird – und haben dafür ein eigenes Tribunal abseits der staatlichen Justiz ins Leben gerufen: das Tribunal Popular en Siloé.
Ein Blick auf dieses Tribunal zeigt aber auch: Die Hoffnung, dass die neue linke Regierung unter Gustavo Petro Gewalt und Straflosigkeit beenden kann, ist getrübt. Als das Tribunal in Siloé jüngst zur Urteilsverkündung zusammenkam, waren An
, waren Angehörige der Opfer, Nachbarn sowie internationale Geschworene dabei. Als Garant des Prozesses firmierte der Erzbischof von Cali.Es geht um die WahrheitDas Tribunal verurteilte den kolumbianischen Staat symbolisch unter anderem für Mord, gewaltsames Verschwindenlassen und Folter. 16 Menschen wurden in Siloé während der Proteste 2021 getötet, 48 erlitten Schussverletzungen.Direkte juristische Konsequenzen haben die Ermittlungen keine. „Es geht um die Anerkennung der Wahrheit. Für die Familien ist das ein Akt der Befreiung von der Last, die sie tragen“, erklärt Isabella Albán. Die 25-jährige Soziologin ist selbst in Siloé aufgewachsen und seit vielen Jahren in Stadtteilorganisationen aktiv, nun auch beim Volkstribunal.Inzwischen liegt die schreckliche Nacht von Siloé bereits zwei Jahre zurück. Über mehrere Wochen hatten Protestierende landesweit Städte lahmgelegt, nachdem der damalige ultrarechte Präsident Ivan Duque mitten in der Pandemie eine Steuerreform ankündigte, die nicht die Reichen, sondern den ärmeren Teil der Bevölkerung stärker belastet hätte. Es waren Massendemonstrationen, wie sie das Land schon lange nicht mehr erlebt hatte: Indigene, Studierende, Gewerkschaften, vor allem junge Leute aus den marginalisierten Vierteln gingen auf die Straße. Während Cali damals zum Zentrum der Proteste wurde, war Siloé das Zentrum des Widerstands in Cali.In Siloé gehören 83,4 Prozent der Bevölkerung zur ärmsten der sechs Kategorien der kolumbianischen Sozialstatistik. Hier sorgte 2021 die pandemiebedingte Ausgangssperre für Hunger in den Familien, die oft auf informelle Arbeit angewiesen sind. Organisierte Nachbarschaften sammelten Lebensmittel, und sie protestierten gegen die Regierung. Die wiederum antwortete mit Repression.Tod in der NotaufnahmeAm 2. Mai 2021 starb der 21-jährige Nicolas Guerrero nach einer Demonstration durch Schüsse der Aufstandsbekämpfungspolizei ESMAD. Am Abend darauf kamen in Siloé Demonstrierende für ein Gedenken zusammen. Was dann geschah, hat Amnesty International rekonstruiert: Gegen 20 Uhr löste sich die Menschengruppe auf, nur noch einige junge Leute blieben zurück. Rund eine Stunde später tauchten gepanzerte Polizeifahrzeuge auf.Sie räumten die Barrikaden und trieben die Menschen mit Tränengas auseinander. Die Situation im Viertel wurde chaotisch. Mehrere Zeugen berichteten, dass der Strom ausfiel. Von oben schossen Polizeihelikopter mit Tränengasgranaten – unten feuerten Beamte auf die Jugendlichen. In Videos schreien sie um Hilfe, Verletzte liegen am Boden. Einer von ihnen war Kevin Agudelo, 22 Jahre alt, leidenschaftlicher Fußballer beim Siloé FC. Er stirbt in der Notaufnahme. Auch José Emilson Ambuila und Harold Antonio Rodríguez kamen in dieser Nacht durch Kugeln der Polizei ums Leben.Die Rekonstruktion der Ereignisse wurde durch eine organisierte Nachbarschaft – das spätere Tribunal – möglich. Sie sammelten Fotos und Videos, durchsuchten Facebook und sprachen mit den Familien der Opfer. „Am Anfang hatten viele Angst, von der Gewalt zu berichten. Aber Stück für Stück lernten sie uns kennen und merkten, dass das Tribunal nicht nur Aussagen aufnimmt, sondern auch die Familien im Schmerz begleitet“, erzählt Isabella Albán. Wer weiterhin Angst vor Repression hatte, konnte als anonymer Zeuge aussagen. „Schließlich kamen Familien zu uns und berichteten von Todesfällen, von denen wir vorher gar nichts wussten“, sagt Albán.Der Abschlussbericht des Tribunals lässt Zweifel an den Opferstatistiken der kolumbianischen Staatsanwaltschaft aufkommen. Die spricht von 16 Todesopfern in ganz Cali während der damaligen Proteste. Doch so viele zählt das Tribunal allein in Siloé, weitere Todesfälle in anderen Stadtteilen sind ebenfalls belegt. Auch die landesweiten Opferstatistiken gehen auseinander. Während NGOs bis zu 75 Todesopfer registriert haben, nennt die Staatsanwaltschaft nur 29.Geißel der Straflosigkeit Die Hoffnung auf staatliche Aufklärung war von Anfang an gering. „Die staatliche Justiz steht für Straflosigkeit“, sagt Albán. Dem gleichen Staat vertrauen, der die Angehörigen getötet hat? Für viele Familien ist das unmöglich, sie haben die Morde gar nicht erst angezeigt. Bei denjenigen, die dafür die Kraft aufgebracht haben, ist der Frust groß. Viele Prozesse wurden bis heute aufgeschoben, andere Klagen fallengelassen.Einer der wenigen Fälle, in denen Polizisten vor Gericht stehen, ist der Tod von Kevin Agudelo in Siloé und fünf weiteren Demonstranten in Cali. Doch die drei angeklagten Polizisten sind weiter im Dienst. Und noch eine Zahl ist vielsagend: Rund ein Jahr nach dem Generalstreik hatte die Staatsanwaltschaft gerade einmal Ermittlungen gegen zehn Polizisten aufgenommen, aber bereits 119 Demonstranten wegen der Beteiligung an den Protesten verhaftet.Doch: Ist der kolumbianische Staat heute nicht ein anderer als während der Proteste von 2021? Dem sozialen Aufstand folgte der Wahlsieg des linken Bündnisses von Gustavo Petro und Francia Marquez. Eine politische Neuausrichtung begann: Sozialprogramme, Ende des fossilen Extraktivismus und der „totale Frieden“. Zu dessen Erreichung soll nicht nur ein Friedensvertrag mit allen illegalen bewaffneten Gruppen geschlossen, sondern auch der Staatsapparat reformiert werden. Doch so ambitioniert die Ziele der linken Regierung sind, so durchdrungen ist der kolumbianische Staat von reaktionären Kräften nach Jahrzehnten der rechtsradikalen Hegemonie.Das zeigt sich auch personell: Der Generalstaatsanwalt Francisco Barbosa gilt als enger Freund des rechtsradikalen Ex-Staatschef Duque und als Gegenspieler zum Reformer Gustavo Petro. Als dieser nach seiner Wahl die Freilassung der inhaftierten Demonstranten veranlassen wollte, stellte sich Barbosa quer.Kein Verlass auf den StaatDie Funktionalität der kolumbianischen Justiz war in den vergangenen Jahrzehnten nicht zuletzt darauf ausgerichtet, Massaker der Armee und verbündeter Paramilitärs zu verschleiern. Laut Politikwissenschaftler Raul Zelik, der als Geschworener aus Deutschland zum Tribunal angereist war, zeige sich in Kolumbien in besonders brutaler Weise „ein sozialer Konflikt, bei dem der Staat das Klasseninteresse der reichen Oberschicht verteidigt“. Die staatlichen Morde in Siloé 2021 sind dabei nur ein jüngeres Kapitel einer langen Reihe von Massakern gegen die ärmere Bevölkerung, die diesmal in Massen einen Aufstand wagte.Das Volkstribunal erkennt ein systematisches staatliches Vorgehen: „Ohne Zweifel sind die Ereignisse in Siloé ein Ausdruck der historischen Tragödie, dass der kolumbianische Staat die Forderungen der sozialen Bewegungen und das Recht auf Protest nicht anerkennt“, heißt es im Urteilsspruch. Im Unterschied zur staatlichen Justiz, die einzelne Polizisten teils niederen Rangs angeklagt hat, benennt das Volkstribunal als Verantwortliche für die Gewalt den Ex-Präsidenten Ivan Duque, den Ex-Verteidigungsminister sowie Generäle und Polizeikommandanten.Die neue Regierung lud das Tribunal zur Teilnahme an der staatlich initiierten „Runde der Opfer des bewaffneten Konflikts“ in die Hauptstadt Bogotá ein. Doch auch wenn sie das Tribunal teilweise unterstützt; anderen mächtigen Akteuren ist es ein Dorn im Auge: Rechte Paramilitärs verteilten in Siloé Pamphlete, in denen sie die Mitglieder des Tribunals mit dem Tod bedrohten. So gilt für die Familien aus Siloé: 2021 gingen sie für ein Ende der Massaker und gegen die Straflosigkeit von Gewalt auf die Straßen. Nun müssen sie – unter Bedrohung – selbst für die Aufklärung der Morde bei diesen Protesten kämpfen. Auf den Staat verlassen können sie sich nach wie vor nicht.