Hammed mag nicht länger warten. Seit Stunden schon steht der 15-Jährige, der mit seinem Vater vor Monaten aus der syrischen Stadt Idlib geflohen ist, an der Kaimauer und starrt ins türkisblaue Wasser. Seine Hand umklammert einen Besenstiel, am daran befestigten Faden baumelt ein Stück Toastbrot. Neben ihm sonnt sich ein Pärchen auf dem Asphalt. Zwei Jungen springen übermütig ins Hafenbecken, und eine griechische Familie breitet die Decke zum Picknick aus. So geduldig Hammed auch auf das Wasser schaut, kein Fisch will an diesem sonnigen Vormittag anbeißen. Doch was hilft es, hier Beobachter zu sein? Der Beobachter sieht nichts, auf jeden Fall zu wenig.
Das Motiv Flüchtlingsschicksal und Normalität lässt sich seit Wochen an jedem Sonntag in Piräus erfahren und kann durch bestürzende Szenen komplettiert werden. Im Hinterland der Hafenpiers stehen zusammengedrängt Camping-Zelte zwischen überlaufenden DIXI-Toiletten. Man sieht lange Schlangen wartender Menschen, die sich Hilfe von einem der freiwilligen Helfer des Griechischen Roten Kreuzes erhoffen.
Eine davon ist Angeliki. Seit nach dem Deal EU/Türkei die Auffanglager auf den südlichen Ägäis-Inseln geräumt werden, landen immer mehr Flüchtlinge in Piräus und damit auch im Behandlungszelt des Roten Kreuzes. An diesem Tag hat die 55-Jährige die Verteilung von Aspirin-Tabletten, Orangen und belegten Broten übernommen. Sie achtet darauf, dass die Ordnung an ihrem provisorischen Depot nicht vollends verloren geht. „Dort drüben Afghanistan, hier Syrien“, ruft sie einem jungen Mann zu, der versucht, sich an den anderen Wartenden vorbeizuschmuggeln. „Man muss hier manchmal laut werden, sonst geht es nicht“, erklärt sie die Situation. „Früher war mein Leben langweilig. Ich war einfach nur Buchhalterin und habe für eine Steuerberatungsfirma gearbeitet. Dann kam unsere Wirtschaftskrise, und ich bekam endlich etwas Sinnvolles zu tun“, sagt sie und freut sich über Sarkasmus und Selbstironie. Zunächst habe sie in einer Athener Suppenküche drei Jahre lang für das Rote Kreuz Essen an Bedürftige ausgegeben. „Dann kamen die Flüchtlinge, und jetzt bin ich hier, um Menschen beizustehen. Ob die Arabisch oder Griechisch sprechen, interessiert mich nicht.“
Väter ohne Familie
Es sind Griechen wie Angeliki, die verhindern, dass dieser Hafen zum Ort eines humanitären Desasters, zu einem Refugium der Elenden, Gestrandeten und Hoffnungslosen wird. Freiwillige wie sie verteilen Zelte gegen Sonne und Regen, weisen die Plätze zu, an denen man sie aufbauen soll, und sorgen für einen Hauch von Privatsphäre. Zuweilen werden von einer Hilfsorganisation auch Fahrten mit Privatautos in andere Flüchtlingsunterkünfte angeboten, wenn sich Familien suchen, die unterwegs auseinandergerissen wurden.
Auch wurden Wartehallen als Notquartiere hergerichtet, die früher einmal für Fährpassagiere gedacht waren. Dort liegen auf dem gefliesten Boden überall Menschen, die nicht viel mehr besitzen als eine Filzdecke mit UNHCR-Aufdruck. Dazu gehören Jolana und ihr Mann Mohammed, beide um die 50, wenn der Eindruck nicht trügt. „Ich bin krank“, klagt Jolana, „hier gibt es keine passenden Medikamente für mich. Ich habe nur den einen Wunsch, noch einmal meine Kinder zu sehen, von denen ich nicht weiß, wo sie abgeblieben sind.“ Die Familie brach vor Wochen ebenfalls im umkämpften Idlib auf und kam auf verschiedenen Wegen über die Türkei nach Griechenland. Vielen geht es wie Jolana, die vergeblich auf ein Lebenszeichen ihrer Angehörigen wartet. Man begegnet Vätern, die ihren Familien vorangehen wollten und nun niemanden haben, der ihnen gefolgt ist. Oder man trifft Kinder, die völlig auf sich allein gestellt sind.
Die 18-jährige Mezgin humpelt zwischen zwei Zelten hindurch. Sie habe sich auf der Flucht den Fuß gebrochen, erzählt sie. Wenigstens habe sie auf der Insel Lesbos von einem Helfer die Krücken bekommen. Nie im Leben hätte ihre Familie aus dem syrisch-kurdischen Qamischli daran gedacht, die gefährliche Route über den Balkan zu nehmen. „Wir hoffen, legal ausreisen zu dürfen, weil man Vater schon in Deutschland ist. Eigentlich sollte er uns nachholen, aber die griechischen Behörden halten uns fest, weil ein paar Papiere fehlen.“ Die Zuversicht, mit ihrer Mutter und den beiden Schwestern schon bald beim Vater zu sein, hat sie nicht verloren. „Es ist kalt, wir kriegen nicht genug zu essen. Es stinkt, man kann sich nicht richtig waschen. Es ist einfach furchtbar hier – wir müssen nach Deutschland.“ Immerhin hat Mezgin die Gewissheit, gemäß dem gerade in Kraft getretenen EU-Türkei-Abkommen nicht übers Meer abgeschoben zu werden. Sie traf mit ihrer Familie vor dem Stichtag 20. März ein, will aber auf keinen Fall um Asyl in Griechenland bitten.
Mehr geht nicht
In den überfüllten Wartehallen ist die Luft kaum erträglich. Fünf Toiletten gibt es für Hunderte von Flüchtlingen. Auf einem A3-Zettel steht handschriftlich in Arabisch, Englisch und Griechisch: „Es gibt hier keine Putzfrauen, die sich um die Reinigung kümmern. Bitte achten Sie selbst auf Sauberkeit.“ Auf einem Zettel daneben ist zu lesen: „Diese Unterkunft wird nicht von der griechischen Regierung betrieben. Die Helfer sind nicht verantwortlich für die Zustände. Wir wollen Ihnen helfen. Alle, die hier arbeiten, tun das ehrenamtlich.“
„Ich kann verstehen, dass die Leute ihre Aggressionen an uns abreagieren, sonst lässt sich ja niemand blicken“, sagt der 28-jährige Ex-Grafikstudent Vasillis. „Als meine Eltern arbeitslos wurden, konnten sie sich mein Studium nicht mehr leisten.“ Nun arbeite er als Taxifahrer, wenn er nicht gerade Flüchtlingen helfe. „Eigentlich kam ich für ein Videoprojekt nach Piräus, aber mittlerweile mache ich einfach alles: Ich besorge Toilettenpapier und Medikamente, versuche Trost zu spenden und betreue Kinder. Mehr geht nicht.“ Vasillis zeigt einen Flyer der Kommunistischen Partei. Ein paar Dutzend ihrer Anhänger demonstrieren im Hafengelände gegen die Flüchtlingspolitik der Regierung, besonders gegen Abschiebungen in die Türkei. Vasillis will sich nicht anschließen. „Ich glaube nicht mehr an Parteien. Wer regiert, der endet wie Syriza“, glaubt er und verteilt Decken an Neuankömmlinge.
Draußen am Kai scheint die Sonne noch immer. Im Schatten zweier Trucks sitzen drei Mädchen um ein Malbuch. Mit ihrem Vater sind Betul, Iman und Ahland aus dem syrischen Deir ez-Zor vor dem IS geflohen. Auch diese Familie hat die Flucht getrennt. Ihre Mutter, so erzählt die 13-jährige Betul, sei mit zwei weiteren Geschwistern schon vor Wochen in Deutschland angekommen. „Jetzt fahren wir zu ihr“, sagt Betul. Dass sie ihre Mutter wohl noch länger entbehren werden, wissen die drei Schwestern nicht. „Ich habe ihnen bisher vorenthalten, dass die Grenze geschlossen ist“, sagt Vater Mohammed. Wie soll die Reise nach Deutschland zustande kommen? Ein Schulterzucken. Nur eines weiß er ganz sicher: „Hätten wir auf die deutschen Behörden gesetzt, wären wir längst tot.“
Ein paar Meter weiter starrt der junge Angler Hammed noch immer ins Wasser des Hafenbeckens. Auch er wird noch lange warten müssen. Nicht nur auf die Fische.
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