Die Worte "lesbisch" und "schwul" nimmt diese Generation nicht einmal in den Mund. Sie sprechen allerhöchstens von "Freundschaftsfrauen" und "Freundschaftsmännern". So auch Werner, der unter Freunden eigentlich Therese heißt. Der alte Mann sitzt im heimischen Salon in roséfarbenem Interieur, trägt dezenten Goldschmuck. Schräg hinter ihm an der Wand ein privater Altar: Goldgerahmt und in Öl blickt seine geliebte Mutter wie eine Marienerscheinung auf die Besucher. Er habe sich nie verstecken müssen und ist die große Ausnahme, das weiß er selbst. Andere Freundschaftsmänner, die mit der Belastung nicht fertig wurden, meldeten sich damals freiwillig an die Front oder begingen gleich Selbstmord, erzählt er.
Wally ist eine "Freundschaftsf
ndschaftsfrau". Hektisch zieht sie an der Zigarette. Die langen lilafarbenen Fingernägel wirken billig, ihr strähniges Haar ist ungepflegt. Wally schildert die Jahre auf dem Strich in Hamburg und von den Ausbruchsversuchen zu den geheimen Frauentreffpunkten der Stadt. Immer wieder wurden die Frauen von der Gestapo verfolgt, von der Sittenpolizei vorgeladen. Und nicht selten war das schwerste Hindernis die eigene Familie: Eltern, die ihre eigenen Kinder in der Hoffnung auf Hilfe in die Psychiatrie zwangseinweisen ließen. Oder Männer, die sich, wie in Wallys Fall, an der eigenen Stieftochter vergingen.Sensibel porträtiert der Dokumentationsfilm Verzaubert von Dorothea Diepenbroik zwölf lesbische Frauen und schwule Männer aus Hamburg. Einigen von ihnen bereitet es Probleme, Details zu erzählen. Sie genieren sich. Eine Frau, "Lütten" genannt, will nicht gefilmt werden, ist nur zu hören. Sie möchte ihr Gesicht wahren, indem sie es versteckt.Die große Mehrheit von ihnen möchte ohnehin lieber in Ruhe gelassen werden. Sie leben im Verborgenen, weil sie es nicht anders kennen. Die Angst vor Schikanen und Diskriminierung sitzt so tief, dass daran auch die Abschaffung des Paragrafen 175 im Jahr 1969 und das Partnerschaftsgesetz aus dem Jahr 2001 nichts ändern konnten.Kürzlich wurde Verzaubert auf der ersten bundesweiten Fachtagung zum Thema "Lesben und Schwule im Alter" in Berlin gezeigt, veranstaltet vom Referat für gleichgeschlechtliche Lebensweisen des Berliner Senats. Es trafen sich Vertreter aus Politik und Wissenschaft, Pflegeeinrichtungen und Wohlfahrtsverbänden. Vor allem aber kam die "Generation Stonewall", die heute 50- bis 60-jährigen Lesben und Schwulen, die Ende der Sechzigerjahre für ihre Rechte gekämpft oder direkt davon profitiert hatten. Und die sich in Vorträgen und Workshops mit der zentralen Frage auseinander setzte, wie es wohl in zehn oder zwanzig Jahren sein würde, wenn sie so alt sind wie die Hamburger Freundschaftsfrauen und -männer aus der Dokumentation. "Dafür haben wir nicht gekämpft", war vielfach zu hören. Denn ein Leben im Verborgenen oder gar in der Verlorenheit einer Pflegestation - das ist für die meisten der KämpferInnen von einst unvorstellbar.In Berlin leben nach einer Referatsstudie bis zu 50.000 Lesben und Schwule im Alter von über 65 Jahren. Schon 2005 sollen es etwa 75.000 sein. Die höhere Lebenserwartung bedeutet, dass alte Menschen länger aktiv und gesund bleiben. Und dass mehr Menschen im Alter einsam sein werden. Bislang sind Vorstellungen und Wünsche von Lesben und Schwulen im Alter kaum erforscht. Denn es fehlen zuverlässige Angaben. Vor allem Frauen und Männer aus der Unterschicht und aus anderen Kulturkreisen geben sich aus Scham oft nicht einmal Freunden oder Verwandten zu erkennen.Umso dringlicher ist es für die nachfolgenden Generationen, in die Offensive zu gehen und nicht darauf zu bauen, dass die Toleranz in der Gesellschaft gegenüber Lesben und Schwulen wie bisher ungebrochen wachsen wird. Erinnert sei hier nur an die späten Achtzigerjahre, als nicht wenige Deutsche Zwangstests und die Internierung von HIV-Positiven oder wenigstens deren Kennzeichnung diskutierten. Von diesen Maßnahmen wären in erster Linie schwule Männer betroffen gewesen.Unmittelbare Auswirkungen haben Verdrängung und Ignoranz in der Altenpflege. In Heimen kann wie überall von einem lesbischschwulen Anteil von bis zu einem Zehntel ausgegangen werden. Doch hier verbergen sich lesbische und schwule alte Menschen erst recht. So ergab eine Anfrage des Referats für gleichgeschlechtliche Lebensweisen in verschiedenen Berliner Bezirken, dass man keine "abweichenden Bedürfnisse" homosexueller Senioren erkenne (Neukölln) und ihre Zahl für spezielle Angebote ohnehin "irrelevant" sei (Wedding). Mittlerweile existieren zwar so genannte biografieorientierte Pflegemodelle, die auch die Besonderheiten eines lesbischen oder schwulen Lebens berücksichtigen. Die Lehrpläne der Altenpflege nehmen auf diese neuen Ansätze in der Regel aber noch keine Rücksicht - Pflege nach Schema F.Obendrein sind in vielen Pflegeberufen überdurchschnittlich viele Lesben und Schwule beschäftigt, die sich aber aus Angst ebenso bedeckt halten wie die Heimbewohner selbst. Beispielsweise hatte die katholische Caritas noch im Sommer allen Angestellten, die sich zu einer eingetragenen lesbischen oder schwulen Lebenspartnerschaft entscheiden würden, mit Kündigung gedroht. Wer wollte da als Schwester oder Pfleger den Arbeitsplatz riskieren? Immerhin wagen manche Heimleiter oder Pflegekräfte einen Vorstoß, finden aber in ihren Verbänden bislang nur selten genügend Rückhalt. Dabei könnte ein offensiver Umgang mit dem Thema Sexualität, insbesondere mit Sexualität im Alter, nicht nur für die Bewohner vieles einfacher machen.Selbstbewussten Lesben und Schwulen vergeht angesichts der aktuellen Lage schnell die gute Laune. Sie möchten sich nicht mehr verstecken, weder im Heim, noch anderswo.So hilft nur Eigeninitiative. Befragt nach ihren Vorstellungen vom Leben im Alter, setzen Schwule und Lesben daher auf alternative Familienkonzepte mit lesbischschwulem Schwerpunkt. Die meisten von ihnen möchten ihren letzten Lebensabschnitt individuell gestalten und selbstbestimmt alt werden, ohne Bevormundung oder soziale Kontrolle. Oft wünschen sich die Befragten dabei eine solidarische Wohngemeinschaft mit mehreren Generationen unter einem Dach, Kinder inklusive - die Hausgemeinschaft als Wahlfamilie.Uneinheitlich ist bei Lesben und Schwulen das Bedürfnis nach Integration oder Rückzug. Eine Gettoisierung wünscht sich natürlich niemand. Doch während sich Schwule vielfach heterosexuelle Mitbewohner durchaus vorstellen können, gehen Lesben- und Frauenprojekte Männern gegenüber eher auf Distanz und akzeptieren Männer beispielsweise als Besucher, nicht jedoch als ständige Mitbewohner. Erst Separieren, dann vorsichtiges Integrieren. Schutzräume schaffen statt einer vom Zaun gebrochenen Integration.Über ein Dutzend Wohnprojekte von Lesben gibt es in Deutschland, schwules und lesbischschwules Wohnen sind hingegen noch selten. Lesben haben es im Gegensatz zu Schwulen einfacher, da sie auf über Jahrzehnte gewachsene Strukturen der Frauenbewegung zurückgreifen können. Zudem gibt es in Deutschland, anders als in den USA, in Großbritannien, den Niederlanden oder Schweden, noch keine etablierten Netzwerke und Foren. Aktive Lobbyarbeit, Switchboards oder Besuchsdienste sind in anderen Ländern längst Realität. Entsprechend zahlreich sind die Initiativen für Wohnprojekte. Tatsächlich realisiert wurden aber auch im Ausland nur wenige. Denn leere Kassen sind für die meisten Projekte, hier wie dort, das größte Problem. In Deutschland sind derzeit drei lesbischschwule Wohnprojekte in Planung: das Frankfurter "AltenpfleGAYheim", das Münchner Projekt "Schwung AG" und "Village e.V." in Berlin (siehe Interview). Sie alle wurden von den jeweiligen Kommunen sehr wohlwollend aufgenommen. Bislang aber sind sie vollständig auf private Finanziers oder auf Spenden angewiesen. Die Münchner Schwung AG hat vergangenes Jahr zusätzlich eine symbolische Aktie aufgelegt. Werke von drei Künstlern werden in limitierter Auflage verkauft und sollen das Projekt unterstützen. Doch diese Finanzierungsalternativen sind mühsam und vor allem sehr langwierig.Besser getroffen hat es das Berliner Lesben- und Frauenprojekt "Offensives Altern e.V.". Nach vielen Jahren der Planung fand sich eine Genossenschaft, die den Bau der Mietwohnungen für etwa 40 Bewohnerinnen im Berliner Bezirk Neukölln übernahm. Ohne die Hilfe der öffentlichen Hand, durch Genossenschaften oder die unterschiedlichen Wohlfahrtsverbände geht bei derartigen Größenordnungen gar nichts mehr. Zudem wären frei finanzierte Wohn- und Pflegeplätze ohne Subventionen für die meisten Interessenten ohnehin nicht bezahlbar.Vielleicht, so ein Fazit der Berliner Tagung, sollten deutsche Wohnprojekte für den Anfang eine Nummer kleiner planen. Das zeigt auch das einzige europäische Beispiel. Im "L.A.Ries-Huis", einem kleinen Appartement-Neubau in Amsterdam, leben seit Ende 2001 sechs schwule Männer und eine lesbische Frau. Ein benachbartes, größeres Pflegeheim, das "Rietvinck", hilft ihnen in Notfällen. Anfangs, so beschreibt ein schwuler Bewohner, waren es die sieben aus dem Ries-Huis, die die anderen ständig grüßen mussten. Mittlerweile grüßen die Rietvinck-Senioren ihre lesbischschwulen Nachbarn zurück.Mehr zum Thema:www.sensjs.berlin.de/familie/gleichgeschlechtliche_lebensweisen/aktuelles/fachtagung.asp (Fachtagung)Wernicke, Harald (Hrsg.): Soziale Projekte für Lesben und Schwule im Alter. Aus den USA, Großbritannien, den Niederlanden und Schweden. Berlin, 2002. (Anfragen für den Reader, den es gegen eine Spende gibt, unter www.schwulesmuseum.de)www.rnw.nl/lifestyle/html/gays020617.html (über das L.A. Ries-Huis in Amsterdam)www.lsvd.de (zu allen Rechtsfragen)
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