Im Sog, im Zug

64. Kurzfilmtage Oberhausen bietet Überraschung, Spaß und Dummie-Faschismus
Ausgabe 19/2018

Herbert Schwarze von der Auswahlkommission für die 64. Oberhausener Kurzfilmtage brachte es beim ersten Programm des deutschen Wettbewerbs auf den Punkt: Diese Konkurrenz war in der Tat ein Fixpunkt des diesjährigen Festivals. Bei allen Unkenrufen zur Situation des deutschen Films – um den Kurz- und Experimentalfilm muss man sich keine Sorgen machen.

Ein paar Striche auf weißem Hintergrund und eine Tonspur – mehr braucht es nicht in Patrick Buhrs Ode ans Bahnfahren The Train, the Forest. Buhr reduziert vertraute Bilder vorbeigleitender Oberleitungsmasten, sich kreuzender und auseinanderdriftender Schienen zur visuellen Essenz einer Eisenbahnreise.

Sylvia Schedelbauer zerlegt in Wishing Well wiederum Found-Footage-Bilder eines Waldes so intensiv, bis die Bilder eine eigenartige Sogwirkung bekommen, schneidet die Aufnahmen eines Kindes darüber. Oder besser darein: Schedelbauers Montage setzt nicht – wie sonst üblich – zwischen den Bildern an, sondern bereits beim Montieren des Einzelbilds und lässt dadurch die Bildebenen sich durchdringen zu einer tranceartigen Erzählung.

Ganz anders arbeitet das Experimentalfilmduo Christoph Girardet und Matthias Müller in Screen: Ausgehend von filmischen Klischees über Hypnose entfalten die beiden Filmemacher zu Stockfilmbildern eine komplexe und dennoch unmittelbar zugängliche Reflexion über die Manipulationswirkung durch Beschwörungen männlich-autoritärer Stimmen.

Geradezu opulent erscheint dagegen Sascha Reichsteins österreichischer Beitrag zum Internationalen Wettbewerb Patterns of the Conquerors. Reichstein versucht in dem Film einen Umgang zu finden mit einer Sammlung von Stoffen, die der Arzt John Forbes Watson 1866 anlegte, um der britischen Textilindustrie den Reichtum indischen Textildesigns vor Augen zu führen. Behutsam gleitet die Kamera über die Proben aus Watsons The Collections of the Textile Manufactures of India, folgt verwebten Goldfäden, würdigt die Schönheit der aufwendigen Designs und entwickelt auf der Tonspur in drei Interviews die Bedeutung der Sammlung: die britische Industrie anzuregen, die Designs vereinfacht nachzuahmen, um die Exportchancen auf dem indischen Markt zu erhöhen.

Die Chiffre 1968 geisterte durch die Reihen jenseits der Wettbewerbe. Am explizitesten im diesjährigen Themenprogramm, das unter dem Titel „Abschied vom Kino“ antrat, um das europäische, vor allem das deutsche Avantgardekino dieser Zeit wiederzuentdecken.

Zwischen Jungmännerhumor und halbherzig interaktivem Kino, das zum Zuprosten im Kinosaal aufforderte, gab es tatsächlich Entdeckungen zu machen, wie Dieter Rühmanns sinnlichen Film A, bei dem verschiedene Personen mit Mund und Zunge eine metallene Kugel auf eine schräge Ebene befördern und wieder auffangen.

Bedauerlicherweise blieben die meisten Annäherungen an „1968“ recht hemdsärmelig. Immerhin zeigte das Programm aber, dass sich Avantgardefilmer mit vielen der politischen Filmemacher jener Zeit prima auf eine stumpfe Faschismustheorie hätten einigen können, die es ihnen erlaubte, alles und jeden als Faschisten zu titulieren. Umso erfreulicher war deshalb, dass der Berliner Kurator Tobias Hering in der Reihe „re-selected“ die Archivbestände der Kurzfilmtage mit denen des Berliner Arsenals verglich und dafür Alain Resnais’ Nuit et brouillard von 1956 zeigte. Dieser Film ruft nämlich in Erinnerung, dass die Verkürzungen nicht mangelndem Wissen, sondern politischen Fehlschlüssen zuzuschreiben sind.

So rar bei den diesjährigen Kurzfilmtagen die filmischen Höhepunkte gesät waren, so sehr geht das Konzept auf, Produktions- und Rezeptionsmuster jährlich aufs Neue wieder herauszufordern.

Der Recherche-Aufenthalt unseres Autors wurde vom Festival unterstützt

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