Kämpfe von gestern

Länderschwerpunkt Das arabische ALFILM-Festival in Berlin konzentriert sich besonders auf Ägypten
Ausgabe 14/2015

Von der Suez-Krise über die Absurditäten des Landes unter Husni Mubarak zu den Schizophrenien der Gegenwart: Die diesjährige Ausgabe des arabischen Festivals ALFILM in Berlin skizziert – vor allem in der Retrospektive für die Schauspielerin Yousra – ägyptische Geschichte.

Yousri Nasrallahs Mercedes von 1993 zum Beispiel erzählt die surrealen Ereignisse im Leben einer Oberschichtfamilie in den frühen 1990er Jahren. Entlang der Figur des Außenseiters Noubi, der gleichzeitig Sozialist, christlich geprägt und Sohn eines Nubiers ist und in dem Film einige homosexuelle Kontakte hat, handelt der Film von der prekären Balance des Selbstbetrugs in der ägyptischen Gesellschaft jener Zeit.

Mercedes ist die formal avanciertere Entsprechung zu Sherif Arafas Slapstick-Komödie Al-irhab wal kabab („Terrorismus und Kebab“) von 1992, in der ein Familienvater (gespielt vom unvermeidlichen Adel Imam) an der ägyptischen Bürokratie verzweifelt, im Gezerre mit einem Sicherheitsmann eine Waffe in die Hand bekommt und schließlich das Kairoer Zentralverwaltungsgebäude als Geisel nimmt.

Mercedes und Al-irhab wal kabab bilden gemeinsam mit zwei Filmen von Youssef Chahine, dem Altmeister des ägyptischen Kinos, das Zentrum der diesjährigen Retrospektive. Im Ganzen scheint die Werkschau wie gemacht, um zum Eröffnungsfilm hinzuführen, Ahmad Abdallas Décor. Darin beginnt Maha, eine Setdesignerin, aus ihrer eigenen Wirklichkeit in die Welt des Films zu wechseln. Mit jedem Hin- und Herdriften wird unentscheidbarer, welche der Welten wirklich ist: die, in der Maha lustlos heruntergekurbelte filmische Durchschnittsware einrichtet, oder jene, in der sie eine kleinbürgerliche Existenz in einem krisengeschüttelten Land mit abendlicher Ausgangssperre führt. Jeder Wechsel bedeutet für Maha einen Ausbruch aus dem Gefängnis ihrer Entscheidungen.

Eingebettet sind diese Werke in ein filmisches Mosaik arabischer Wirklichkeiten, bei dem die Qualität der Dokumentationen besonders ins Auge sticht. Zeina Daccache begleitet in Scheherazade’s Diary die Insassen eines Frauengefängnisses im Libanon dabei, wie sie in einem Theaterstück ihre eigenen Geschichten verarbeiten. Daccaches Film gibt den Frauen Raum, von sich zu erzählen, und lässt sie doch Subjekte ihrer selbst bleiben. Darin ähnelt der Film Saken, Sandra Madis Annäherung an einen wenig bekannten Fall der zahllosen Konflikte des Nahen Ostens: Seit er in den 1980er Jahren im Südlibanon von einem Scharfschützen getroffen wurde, liegt Ibrahim Salameh, ein ehemaliger PLO-Kämpfer, querschnittsgelähmt im Krankenhaus. Gepflegt wird er von dem deutlich jüngeren Walid, der seine Familie in Ägypten zurückgelassen hat, um in Jordanien zu arbeiten. Im Zentrum des Films steht die schwierige Beziehung zwischen Ibrahim und Walid, die Arbeitsverhältnis, Freundschaft und Abhängigkeit ist. Saken gehört zu den dokumentarischen Filmen aus der arabischen Welt, die sich zuletzt unheroischer oder vergessener Teile der Befreiungsbewegungen angenommen haben.

Madis Film lässt sich auch verstehen als Ausblick auf die zu erwartenden Folgen des aktuellen Kriegs in Syrien, den zwei andere Dokumentationen ins Zentrum stellen. Silvered Water von Ossama Mohammed und Wiam Simav Bedirxan setzt aus Aufnahmen von Demonstrationen, Schießereien, Überfällen und Folterungen ein Bild jenes Grauens zusammen, das sich seit Jahren tagtäglich in Syrien abspielt. Haunted von Liwaa Yazji spürt den Folgen dieses Kriegs nach und reflektiert über den Verlust all der Dinge, die ein Zuhause ausmachen, das Leben auf gepackten Koffern.

Eine Welt, vor der man fliehen möchte. Als Noubi in Mercedes die Nervenklinik verlässt, trifft er an der Tür eine befreundete Patientin: „Komm mit mir“ – „Nein, es ist laut da draußen.“

Info

ALFILM findet zum sechsten Mal statt, von 8. bis 15. April in den Berliner Kinos Babylon (Mitte) und Arsenal, alfilm.de

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