Knalli Dalli

Dokumentarfilm Die Spielshow aus dem Geist der Psychiatrie: Lutz Dammbecks Materialsammlung „Overgames“
Ausgabe 16/2016

Auf unscharfen Schwarzweißbildern sieht man ein Paar, verbunden durch eine Schlaufe, sich in etwa fünf Meter Abstand umeinander drehen. Im Hintergrund erinnert ein Mann im Anzug daran, dass die Schlaufe nicht auf den Boden kommen darf. Das Publikum lacht, der Mann im Anzug ist Joachim Fuchsberger, und die Sendung heißt Nur nicht nervös werden, sie war Anfang der 1960er Jahre ein großer Erfolg für die ARD.

In einer Talkshow über Spielshows (Spiele ohne Grenzen?) berichtete Fuchsberger 2004, die Sendung damals sei eine Kopie des US-Vorbilds Beat the Clock gewesen, und dass die Spiele auf Modellen aus psychatrischen Kliniken beruhten. Auf die Frage des Kollegen Rudi Carrell, wie viele Patienten damals zugeschaut hätten, antwortet Fuchsberger: „Eine Nation! Eine verrückte Nation! Eine psychisch gestörte Nation!“

Die Szene ist Ausgangspunkt von Overgames, dem neuen Dokumentarfilm von Lutz Dammbeck. Von den Aufnahmen der Talkshow, die auf Dammbecks Laptop laufen, schwenkt die Kamera über eine Reihe von Büchern, darunter ein Werk des „Rassekundlers“ Hans F. K. Günther und ein Foto zu Dementia praecox aus dem Lehrbuch des Psychiaters Emil Kraepelin von der vorletzten Jahrhundertwende. Später legt Dammbeck eine Ausgabe des Buches Is Germany Incurable? dazu, das der Neurologe Richard M. Brickner 1943 publizierte.

Overgames entfaltet auf über zweieinhalb Stunden Länge eine Fülle von Material, das mal von deutlichen, mal von assoziativen Verbindungen zusammengehalten wird. Drei Überlegungen will der Filmemacher nach eigener Aussage nachspüren: Ob tatsächlich Spiele aus der Psychiatrie in Fernsehshows verwendet wurden? Ob es dabei einen Zusammenhang mit der Umerziehung der Westdeutschen nach 1945 gab? Sowie der Ideengeschichte einer permanenten Revolution (womit nicht das Konzept Trotzkis gemeint ist, sondern eher eine Art permanente Demokratisierung)?

Sich in Quellen verlieren

Dammbeck schlägt Schneisen durch Archivmaterial und Interviews, die die Spektakel der französischen Revolution (die eine Alternative zum Katholizismus anbieten sollten) mit den vollgekruschtelten Häusern heutiger amerikanischer Game-Show-Macher verbinden. Und er stellt die Biografien von Spielshow-Pionieren wie Mark Goodson mit dem Kampf liberaler Anthropologen wie Franz Boas und Margaret Mead der eugenischen Bewegung der 1920er und 1930er Jahre gegenüber.

Vor allem in der Lebensgeschichte Goodsons verschränken sich die Themen von Overgames eindrücklich. Als Student der Wirtschaftswissenschaften beginnt er sich unter dem Einfluss des Freudschülers Harold D. Lasswell Anfang der 1930er Jahre für Vorurteile und Propaganda zu interessieren. Während des Kriegs dokumentiert Goodson die Aktivitäten und Publikationen deutscher und italienischer Faschisten in den USA. Unter dem Eindruck von Anfeindungen gegen Juden in den USA beginnt er eine Psychoanalyse, die er sein Leben lang fortführen sollte. Ab 1948 entwickelte und produzierte Goodson schließlich gemeinsam mit seinem Partner Bill Todman Formate für Fernsehsender in aller Welt, und zwar so erfolgreich, dass er sich einen Privatjet leisten konnte.

Was Overgames nicht vermag, ist seine drei Fragen halbwegs plausibel zu beantworten. Heutige Gameshow-Macher zucken auf die Frage, ob die Spiele ihrer Sendungen aus der Psychologie stammen, mit den Schultern, Psychiater, wie der Erfinder des Stanford-Prison-Experiments Philip Zimbardo, winken ab; er zumindest habe davon noch nichts gehört und seine Zweifel. Dammbecks Versuch, den Film mit einem etwas küchenpsychologisch geratenen Abriss zu einer westdeutschen Kollektivbiografie der zwischen 1939 und 1945 Geborenen abzurunden, rettet da nichts.

Allerdings ist das wenig überzeugende Ende für die Wahrnehmung von Overgames fast unerheblich. Das Geflecht von Lebensgeschichten und Denkansätzen entwickelt in all seinen Verästelungen auch ohne klare Synthese große Sogkraft. Einige Enden weisen über den Film hinaus und erweitern aktuelle Forschungen; das entstehende Bewusstsein für die soft power der Kultur in der amerikanischen Außenpolitik etwa ist in den letzten Jahren wiederholt Gegenstand wissenschaftlicher Studien gewesen. Dammbeck verknüpft diese Geschichte mit der des frühen Fernsehens, führt die Überlegungen weiter und überträgt sie auf konkrete Anwendungsfelder. Materialien wie die berühmt gewordene Analyse des NS-Spielfilms Hitlerjunge Quex durch Margaret Meads Ehemann Gregory Bateson und eben Brickners Is Germany In- curable? geben Einblick in die Suche nach Erklärungen für den Aufstieg des Nationalsozialismus und einen Umgang mit Deutschland in der Nachkriegszeit. Zugleich sind sie von der Befürchtung durchzogen, die Verlockungen autoritärer Systeme könnten sich nur limitieren, nicht aber beseitigen lassen.

Dammbeck gelingt in Overgames die Balance zwischen dem Aufspüren origineller historischer Verbindungslinien und dem abschweifenden Sich-Verlieren in Quellen. Wer sich auf die intellektuelle Reise des Films einlässt und von dem bisweilen arg vorlesungshaften Stil nicht abgeschreckt wird, dem verschafft Overgames die originelle Darstellung einer kulturhistorischen Landschaft. Dammbecks Entwurf des Zusammenwirkens ist dabei so detailliert und fasziniert vom pragmatischen Ineinandergreifen der Denkansätze, dass der Film zu einem Artefakt der „Entschwörungstheorie“ (Daniel Kulla) wird.

Overgames Lutz Dammbeck D 2015, 164 Min.

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