A Million Miles Away
Irgendwo in Ohio sitzt eine junge Frau in ihrem Zimmer und redet mit einem Plastik-E.T. auf dem Regal. In einem anderen Zimmer sitzt eine andere junge Frau und singt „Like A Prayer“ von Madonna. Während sie singt (und sie singt gut) nimmt das Hämmern an ihrer Tür zu. Schließlich ruft jemand von draußen „Shut up!“ Die junge Frau hört auf zu singen.
Der nächste Schnitt bringt uns an eine Highschool. Eine Lehrerin in einem Katzenpullover sitzt am Pult, versucht eine SMS ihres Partners zu verstehen, schreibt in ihr Tagebuch und spricht sich selbst Mut zu: „You can do this!“. Chorstunde. Die Schülerinnen kommen rein, ins Gespräch vertieft und das Lächeln, das sich die Lehrerin zurecht gelegt hat, verschwindet. Als die Schülerinnen anfangen sollen zu singen, geht es um alles außer Tonübungen. Eine Weile lang tuscheln sie miteinander bis eine Schülerin die Übung für beendet erklärt. Unter Anleitung der Lehrerin beginnen die Schülerinnen zu singen:
„If you think I'll sit around while you chip away my brain
Listen I ain't foolin' and you'd better think again
Out there is a fortune waiting to be had
If you think I'll let it go you're mad
You've got another thing comin'“
Mit jeder Zeile des Judas Priest-Songs verselbständigt sich der Gesang der Teenager immer mehr, während die Lehrerin von der Situation überwältigt in Tränen ausbricht. Die Welten driften auseinander, bis ein „Fuck!“ der Lehrerin, die Barrieren zum Einsturz bringt.
Jennifer Reeders kurzer Spielfilm verdichtet in einer einfachen Situation das Aufeinanderprallen der Welten der Teenager und ihrer Lehrerin und lässt diese für einen kurzen kostbaren Moment verschmelzen. Der Teenageralltag schreibt sich immer wieder in den Film ein – in Form von Handykonversationen über Erwachsenwerden, Sex, Schamhaare und Eltern. Die feministische Lektion, welche die Schülerinnen ihrer Aushilfslehrerin unverhofft erteilen, begleitet diese auf dem Gang durch die Schulflure – zuletzt wirkt sogar der Katzenpullover wie verwandelt.
Reeders Film lief letztes Jahr im internationalen Wettbewerb der Kurzfilmtage und war dieses Jahr Teil eines Porträts der Filmemacherin, die derzeit nach 45 Film- und Videoprojekten an ihrem ersten Langfilm arbeitet.
Film
A Million Miles AwayJennifer Reeder USA 2014
Saigo no Tenshi, Last Angel
Eine junge Frau betrachtet sich selbst zu Hause kritisch im Spiegel. Geschützt von einem durchsichtigen Regenschirm und zugleich äußerst sichtbar durch den knallgelben Mantel, den sie trägt, gleitet sie anschließend durch die Straßen einer japanischen Großstadt. Trotz aller erkennbaren Routine wirkt sie dabei verunsichert. An einer Ampel fällt ihr Blick auf eine junge Frau, ihre Blicke scheinen sich zu kreuzen. Wieder zu Hause schiebt sie das Fenster einen Spalt weit auf, gerade weit genug, um hinaussehen zu können auf eine andere junge Frau, die inmitten von Schrott ein Brötchen isst, dass sie kurz zuvor aus einer Mülltüte gezogen hat. Deren Weg wiederum kreuzt sich kurz darauf mit dem eines jungen Mannes, der seinerseits zuvor einen Mann mit einem Baseballschläger niedergeschlagen hat und ihm das Portemonnaie geklaut hat. Gerade einmal vier Menschen bevölkern den Mikrokosmos von Saigo no Tenshi.
Takashi Ito webt aus ihnen einen halbstündige Einblick in das Leben der Figuren. Ohne dass ein Wort gesprochen würde, entfaltet er ein Geflecht von Wünschen, Ängsten und Begehren. In den späten 1990er Jahren wandte sich Ito nach abstrakteren Werken narrativeren Formen zu. Die Thematisierung von Gewalt, die sich auch in diesen Filmen schon findet, entwickelt er in Saigo no Tenshi zu einem tragenden Element der narrativen Elemente. Anders als in vielen anderen Filmen ist sie jedoch nicht spektakulär, sondern beiläufiger, bisweilen absurder Teil des Alltags. Gewalt begleitet das leicht zu erschütternde Gleiten durch den Alltag eher, als es zu erschüttern. Neu ist die soziale Verortung der Figuren in Saigo no Tenshi. Armut, Einsamkeit spielten in Itos letztem Film Amai Seikatsu (Sweet Life) von 2010, der Saigo no Tenshi on allen Filmen Itos am nächsten ist, noch keine Rolle. Diese Verortung dringt jedoch kaum weiter als an die Oberfläche der Narration, die weit mehr daran interessiert ist, die innere und äußere Wirklichkeit der vier Protagonisten zu verschränken.
Film
Saigo no Tenshi Last Angel Ito Takashi Japan 2014, 33 Minuten (2. Preis der Jury des Ministeriums für Familie, Kinder, Jugend, Kultur und Sport des Landes Nordrhein-Westfalen)
(Dream Caused By) Last Mango Before the Monsoon
Die eigentliche Protagonistin von Payal Kapadias Last Mango Before the Monsoon hört man lange bevor man sie sieht. Erst beim Verlassen des Hauses wird die Natur sichtbar. Das Grün des Grases glüht im gedämpften Licht der Dämmerung. Zwei Techniker stapfen in den Wald hinein, um Kameras anzubringen, welche die Bewegung von Tieren festhalten sollen. Die letzten Minuten des Films, in denen Bombay zu sehen ist und die Frau, die anfangs beim Essen einer Mango gefilmt wird, kontrastieren scharf mit den Naturaufnahmen.
In ruhigen beharrlichen Kameraeinstellungen nähert sich Kapadia dem Verhältnis von Menschen zur Natur. Ein Verhältnis, das immer fragiler zu werden scheint.
film
(Dream Caused By) Last Mango Before the Monsoon Payal Kapadia Indien 2014, 19 Minuten (Preis der Internationalen Filmkritik (FIPRESCI-Preis), Lobende Erwähnung der Internationalen Jury)
Have You Ever Killed A Bear? or Becoming Jamila
Eine junge Frau in einem Café, gefilmt durch die Schaufensterscheibe. Dann verändert die Stimme aus dem Off die Szenerie: „Du bist in einem Café voller Menschen, die sich über alles Mögliche unterhalten. Du hast eine selbst gebaute Bombe dabei. Was auch immer passiert, du wirst die Bombe legen.“ Es folgt eine kurze Szene aus Gillo Pontecorvos La battaglia di Algeri („Schlacht um Algier“). Vorbild für eine der drei Frauen, die in Pontecorvos Film Bomben legen, war die algerische FLN-Aktivistin Djamila Bouhired. Bouhired ist die wohl bekannteste Gestalt des Algerienkriegs.
Nach ihrer Verhaftung 1957 kämpften Aktivisten weltweit für ihre Freilassung. Weitere Bekanntheit erlangte Bouhired, weil sich Gamal Abdel Nasser, seit 1956 an der Macht in Ägypten, der Kampagne bediente. Einerseits weil Nasser so kurz nach der Suezkrise jedes Argument gegen den französischen Kolonialismus recht war, andererseits, um den ägyptischen Hegemonialanspruch in der arabischen Welt zu unterstreichen.
Bouhired landete mit der Pistole in der Hand auf dem Cover der traditionsreichen ägyptischen Zeitschrift Al-Hired und wurde zur Protagonistin eines der ersten großen nasseristischen Filme, Djamila von Youssef Chahine.
Marwa Arsanios' neuste Videoarbeit entstand aus einem Rechercheprojekt zur ägyptischen Zeitschrift Al-Hilal. In Have You Ever Killed A Bear? or Becoming Jamila stellt die Protagonistin Jessika Khazrik Szenen aus Pontecorvos Film nach, spielt mit der Rolle Djamila Bouhired und reflektiert die Attraktion und das Unbehagen, was sie gegenüber der Figur empfindet. Einerseits erscheint Bouhired als heroische Freiheitskämpferin, andererseits kritisiert sie die Attentate – jenseits des Kontextes des Befreiungskampfes. Marwa Arsanios Videoarbeit versucht, einen Eindruck zu geben von dem Weg, den Kämpferinnen wie Bouhired zurücklegten und ist zugleich eine vielschichtige Befragung der Figur.
film
Have You Ever Killed A Bear? or Becoming Jamila Marwa Arsanios Libanon 2014, 25 Minuten
Karin och kuratorn (Karin und die Therapeutin)
Alles beginnt mit Gunnars Autounfall. Gunnar, der Mann von Karin, Vikar und plötzlich tot. Während dem Leichenschmaus beobachtet die Erzählerin des Films Karin dabei, wie sie zum Buffet geht, ganz für sich die Kuchenkrümel zusammenstreicht – und dabei lächelt. Schon bald lässt Karin Stück für Stück ihr altes Leben zurück. Mit ihrer Therapeutin Brigitte hat sie jemanden an ihrer Seite, der ihr dabei hilft, all ihre Spleens und Idiosynkrasien zu entfalten. Den ganzen Tag Game-Shows im Fernsehen zu gucken, reicht Karin schon lange nicht mehr. Dann doch eher Zigarren schmuggeln oder wilde Pläne schmieden, wie sich Drogen am schwedischen Zoll vorbeibringen lassen.
Monika Andreaes Kurzspielfilm kontrastiert das Aufleben von Karin im Vergleich zu ihrer Schwester, die weiter Hausfrau, Ehefrau und Mutter bleibt und in der Enge klassischer Ehe- und Familienmodelle verharrt. Karin, welche die Tante der Filmemacherin ist, bricht aus jener Welt aus, die der Film in Form von gedeckten Tischen und Haushaltsratgebern zeigt; sie muss nicht länger Gunnars Ausreißer ausbügeln, sondern kann sich ausleben. So sehr, dass sie schließlich sogar ihre Therapeutin zum Ausbruch aus ihrer Ehe motiviert.
Andreaes Film schließt einerseits an einige Filme aus Schweden an, die sich der Generation der Mütter heutiger Filmemacherinnen widmen und deren Neuanfänge und Brüche mit den Erwartungen an ihren Lebensweg thematisieren wie Klara Swantessons Tillväxtsjukan (Radicalized). Andererseits schließt der Film – von seiner Kapiteleinteilung, den Themen bis zur Farbigkeit der Anfangs- und Endsequenz – an feministische Klassiker wie Sigmund Freud’s Dora (A Case of Mistaken Identity)“ an.
film
Karin och kuratorn (Karin und die Therapeutin) Monika Andreae Schweden 2014, 27 Minuten
Schicht
Eine Wohnsiedlung in Salzgitter. Mehr Westdeutschland geht schwerlich. Ein Kameraschwenk nach oben offenbart die Nähe der Siedlung zum Industriegebiet. Dann geht es mit dem Lastenfahrstuhl hinunter. Der Ausflug in die Familiengeschichte und nach Salzgitter – er wirkt wie ein Ausflug in die Welt Westdeutschlands, die wenig beachtet mit dem Fall der Mauer auch an ihr Ende kam. Westdeutschland hatte die letzten Jahrzehnte der Mauer erfolgreich ausgesessen, Kinder waren nach Schlagerstars wie Alexandra benannt worden: „Illusionen blühn im Sommerwind // treiben Blüten, die so schön // doch so vergänglich sind // pflückt sie erst an deinem Wege die Erfahrung // welken sie geschwind.“
Wie auch der Film Karin och Kuratorn beginnt Schicht mit einem Todesfall. Doch Schicht eröffnet jenseits der einfachen Erzählung einen assoziativen Nachhall durch eine Kommentarstimme, die ständig Stichworte gibt und Medienbilder, die zwischen der Handlung eingeblendet werde.
Während wir Rudolf Gerbaulet, dem Vater der Filmemacherin beim Joggen mit seinem Hund folgen, mit ihm nach wenigen Ecken auf einen Feldweg zwischen zwei Stadtteilen einbiegen und wieder in die Wohnsiedlungen zurückkehren, erzählt der Film die Geschichte Salzgitters als Teil der nationalsozialistischen Kriegsvorbereitungen, etwa von Bau der Hermann-Göring-Werke als Motor der Stadtentwicklung. Fotos zeigen wie alltäglich wie die deutsche Geschichte sich auf einer Faschingsfete der 1950er Jahre zeigte: Hitler, Kaiser Wilhelm II. sind dabei.
Je weiter wir von der Geschichte der Eltern in die Jugend der Filmemacherin vordringen, desto deutlicher wird der selbstreflexive Ton, aber auch das Gefühl des Nicht-dazugehörens. Ein holzfurniertes Krankenbett ist das Gegenbild zu den Aufnahmen aus der Wohnung des Vaters, der läuft wie viele Männer dieser Generation laufen: Ein wenig stampfig, den Oberkörper steif, als hätte er übers Malochen das Tanzen verlernt.
Schicht ist geschnitten von Philip Scheffner, der gemeinsam mit Merle Kröger an der Dramaturgie des Films mitgearbeitet hat. Auch wenn Schicht deutlich anders arbeitet als Scheffners eigene Filme, verbindet die Filme Scheffners und Gerbaulets ein Vertrauen aufs Bild, die Neugier auf ungewohnte Zusammenhänge und ein Interesse am Auffinden von Geschichte im Kleinklein des Alltäglichen.
Schicht zeigt die Familiengeschichte, die Krankheit der Mutter, Aufnahmen aus dem bürgerlichen Leben im Reihenhaus und in der Wohnsiedlung, die Schändungen eines Friedhofs, auf dem Opfer der Zwangsarbeit bei den Hermann-Göring-Werken liegen. All diese verschiedenen Geschichten existieren nebeneinander, durchdringen sich und werden zu einem Profil deutscher Lebenswirklichkeit. Die gespenstische Vertrautheit vieler Bilder aus dem Haushalt der Eltern, dem Familienalbum, machen Schicht anknüpfungsfähig für Erinnerungen an die eigene Vergangenheit, auch jenseits von Salzgitter.
film
Schicht Alex Gerbaulet Deutschland 2014, 28 Minuten (Preis für den besten Beitrag des Deutschen Wettbewerbs)
Freedom and Independence
In Bjørn Melhus' letzter Videoarbeit Sudden destruction erwachte eine Leiche und verkündete die apokalyptische Zerstörung. Das Spiel mit der Apokalypse scheint es Melhus angetan zu haben: In seiner aktuellen Arbeit Freedom and Independence verbindet er Zitate aus apokalyptischen US-Blockbustern mit Zitaten von Ayn Rand, die in dem Film als Urahnin des Neoliberalismus und der Ideologie freier Märkte fungiert. In einer Szene des Films wird eine dominaartige Ayn-Rand-Personifikation mit Dollarzeichen um den Hals auf eine Pietà-Statue zugefahren (beide werden, wie alle anderen Figuren des Films von Melhus verkörpert) und bringt ihr mit der Peitsche die Grundpfeiler von Rands Denken bei: „Freiheit. Individualismus. Kapitalismus.“
Kurz darauf strömt Seifenblubberschaum aus dem Mund der Pietà, der sie einhüllt und zur Urzelle eines Superheldenduos im Fahrradoutfit transformiert: Freiheit (blau) und Unabhängigkeit (rot). Bevor die beiden die Welt beglücken, üben sie sich zunächst selbst in Techniken der physischen und spirituellen Selbstoptimierung. Der Film ist nicht vorbei, ehe alle in Zombies des freien Marktes verwandelt sind.
Bjørn Melhus' Arbeiten orientieren sich ästhetisch an US-Blockbustern und verarbeiten deren ideologische Versatzstücke dekonstruktivistisch. Aus der Collage von Ayn Rands Urtexten für die Freiheit der Märkte und parareligiösen Phrasen in Blockbustern entwickelt Melhus eine Art Selbstentlarvung mit glänzender Oberflächen.
film
Freedom and Independence Bjørn Melhus Deutschland 2014, 15 Minuten
Wada'
Wortlos schlurft Ibrahim an den Frühstückstisch und hat es eilig, sich der Gesellschaft seiner Frau und seines Sohnes zu entziehen. In der nächsten Szene sehen wir ihn umgeben von den Geräuschen Berlins. Wie er da so geht, wirkt es als würde sich die Wand von Geräuschen vor ihm teilen und hinter ihm wieder schließen. Sein erstes Ziel ist ein Café, in dem er sich mit einem jungen Mann trifft, der ihm bei der Suche nach einem Verwandten helfen soll, der in den Wirren des syrischen Bürgerkriegs verschwunden ist. Ibrahims nächste Station ist ein Bestattungsinstitut. Wada' zeigt, wie das Verschwinden eines Verwandten in den Wirren des syrischen Bürgerkriegs einem Familienvater nach 30 Jahren in Berlin den Boden unter den Füßen wegzieht. Getragen wird der Film nicht zuletzt vom Debut seines Hauptdarstellers Ahmad Faraj.
Khaled Mzhers erste Regiearbeit an der Berliner DFFB verbindet dokumentarische und fiktionale Elemente. Am besten funktioniert das immer dann, wenn die Szenen scheinbar nichts mit der Handlung zu tun haben: So wie der Mann im Cafe, der sorgfältig Alufolie über ein Gefäß streicht und anschließend kleine Löcher in die Alufolie sticht, den Aufnahmen einer Leichenwaschung oder der Band in einer Bar gegen Ende des Films.
In Szenen wie diesen wird deutlich, dass es nur eine von mehreren Möglichkeiten ist, Figuren in einer künstlichen Welt agieren zu lassen, wie dies im deutschen Film zumeist geschieht – selbst dann wenn diese behaupten, Realität abzubilden. In Mzhers Film war die umgebende Wirklichkeit schon da, bevor sich die Handlung in ihr ereignete – und sie wird bleiben, nachdem Ibrahim nach Syrien gefahren ist. Seine Wirklichkeit ist sie schon jetzt nicht mehr, auch wenn er sich vorläufig noch durch sie hindurch bewegen muss.
film
Wada‘ Khaled Mzher Deutschland 2014, 28'30 Minuten
info
Der Aufenthalt des Autors in Oberhausen wurde von den Kurzfilmtagen unterstützt
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