Was du nicht siehst

Buch Ein Sammelband diskutiert das Verhältnis des Dokumentarfilms zur Welt
Ausgabe 22/2018

Anders als bei Spielfilmen geht es uns beim Sehen von Dokumentarfilmen um die Art, wie diese sich zur Welt ins Verhältnis setzen. Seit einigen Jahren erfreuen sich Dokumentarfilme wieder größerer Beliebtheit; selbst experimentellere Formen wie Philip Scheffners Arbeiten (zuletzt Havarie, 2016) oder Leviathan (2012) von Lucien Castaing-Taylor und Véréna Paravel finden im Kino Zuschauer.

Mit Sichtbar machen reflektiert nun ein Sammelband die Politiken des Dokumentarfilms, wie es im Untertitel heißt. Was wird wie unter welchen Bedingungen vorgeführt – oder eben gerade nicht. Doch der Band will mehr als das: eines der in der Einleitung formulierten Grundanliegen ist es „eine Filmsprache zu erfinden und weiterzuentwickeln, die ... für ein visuelles Denken geschaffen ist, das ‚den Bewegungen der Dinge‘ sowie ihrer lebendigen Verbindung auf die Spur kommen will.“

Und in der Tat: Viele der Beiträge finden Wege, scheinbar bekannte Bilder neu zu denken oder widmen sich gleich Phänomenen, die zunächst marginal erscheinen mögen, während der Lektüre aber plausibel werden. Lena Stölzls Aufsatz Leere, Grund, Feld beginnt etwa mit der Aufnahme einer nebeligen Landschaft aus Lee Anne Schmitts California Company Town (2008) – einem Landschaftsportrait, aus dem eine Stadt mit ihren Funktionen und Geschichten lange verschwunden ist. Stölzl ist wie ihre Mitherausgeber Vrääth Öhner und Elisabeth Büttner (posthum) Mitarbeiterin des Instituts für Theater-, Film- und Medienwissenschaften der Universität Wien. Die Aufsätze gehen zurück auf Workshops, die dort zwischen 2009 und 2016 stattfanden.

Eva Hohenberger geht in ihrem Beitrag auf Die Suche nach der Wahrheit und damit dem Verhältnis von Dokumentarfilm und Recht nach, das sie als ambivalent entfaltet: Der Erwartung, in Dokumentarfilmen „Wahres“ zu sehen, steht die Kunstform Film gegenüber, der – auch juristisch – größere Freiheit bei Behauptungen zugestanden wird als etwa Berichten. So umreißt Hohenberger das Spannungsfeld, auf dem die Arbeit von Dokumentarfilmen stattfindet.

Die Baseler Medienwissenschaftlerin Ute Holl wiederum zementiert mit ihrem Beitrag Mit ohne Ordnung einmal mehr, dass sie eine der anregendsten Denkerinnen zum Film ist. In einer Tour de Force durch die Lyrik Stephane Mallarmés, die frühen Filme der Brüder Lumières und einen frühen Film des iranischen Regisseurs Abbas Kiarostami entwickelt Holl einen Zugang zur fragilen Balance zwischen Bildern der Ordnung und der Unordnung und verweist so – auch mit Blick auf die historische Rezeption von Filmen – auf eine Grundkonstellation: „Dokumentarisch zu verfahren hieße mitzuführen, wie sich äußert, was kein Bild, kein Ton und das Fehlen eines Schnitts ist.“ Und weiter: „Ein Drehen mit ohne Ordnung bedeutet nicht einfach die Auflösung von Ordnung, sondern den Einsatz filmischer Verfahren, die Ordnungen und Blickregime zugleich entziehen und im Entzug spürbar machen.“

Ein Verfahren, wie das von Holl skizzierte, bedeutet Transparenz für die Bedingungen, unter denen Bilder hergestellt werden. Wenn Bilder aus Dokumentarfilmen, wie in der Einleitung gefordert, als Grundlage für ein „visuelles Denken“ dienen sollen, wird es ohne solche Transparenz nicht gehen. Dokumentarfilme sind also nur als Erzählungen ihres eigenen Making-ofs denkbar.

Auch wenn nicht wenige der Beiträge dem interessierten Leser anfangs Steine in Form eines theoretischen Einstiegs in den Weg legen, bevor sich deren Relevanz für die Reflektion der Bilder erweist: Sichtbar machen ist ein wertvoller Beitrag, um über die Implikationen der Bilder nachzudenken, die wir in dokumentarischen Filmen sehen. Ein Band, den zu lesen, man sich trauen sollte.

Info

Sichtbar machen. Politiken des Dokumentarfims E. Büttner/V. Öhner/L. Stölzl (Hg.) Vorwerk 8, 2018, 24 €

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